Stefan Weidner über das islamische Recht

„Das Paradebeispiel für eine nichtstaatlich verbürgte Rechtssicherheit bietet ausgerechnet der große, als despotisch verschriene Antagonist des Westens, der klassische Islam – es käme allerdings auch jede andere transzendent fundierte Gesetzgebung dafür in Frage. Wenn ich hier den Islam als Beispiel herausgreife, so, weil es das uns nächste, am besten erforschte ist – und mir durch meine bisherige Arbeit vertraut ist. Das Ziel ist dabei keine Apologie des Islams, sondern der Hinweis auf alternative Narrative und Denkmöglichkeiten sowie auf die Lücken, Fallen und Aporien des Kosmopolitismus. Wir wollen versuchen, Vorschläge zu erarbeiten, wie man diese Fallen und Lücken umgehen und füllen könnte.

Gleich nämlich, unter welchem Herrscher oder welchem Staat die Muslime zu leben hatten, galt ein vom jeweiligen Herrscher und der jeweiligen Regierungsform völlig unabhängiges, als gottgegeben geltendes Gesetz, auf das sich jeder berufen konnte. Die in Demokratien und Republiken aufkommende Frage und von Benhabib konstatierte Problematik, welches Staatsvolk was beschließt und wer wen warum wie unter Schutz stellt, konnte sich unter solchen Voraussetzungen nicht stellen. Man könnte einwenden: In den Genuss dieses über dem menschlichen Entscheid und damit der menschlichen Willkür stehenden Gesetzes kämen ja nur die Muslime. Das stimmt wohl. Indessen kann man leichter Muslim werden als Staatsbürger eines modernen westlichen Staates (es sei denn, man hat ausreichend Geld und kauft sich eine solche Staatsbürgerschaft, wie es manche Länder der EU anbieten).

In der frühen Neuzeit umfasste der Islam zudem die halbe bekannte Welt, von Marokko bis Nordchina und Indonesien, und bildete ein zumindest theoretisch rechtseinheitliches Gebiet von bislang unerreichten Ausmaßen bei gleichzeitig größter ethnischer-kultureller Verschiedenheit. Kam hinzu, dass der Islam für die anderen bekannten und von ihm anerkannten Religionen ein Seperatrecht in allen zivilen Belangen zuließ, wie es etwa den Juden von Thessaloniki zugute kam. Der Preis dafür war ein dem Staat, der Regierung und dem Demos (also dem Volkswillen) entzogenen Recht, unserem Verständnis nach also ein undemokratisches, eben die Scharia.

Das islamische Recht, das mit dem, was in Europa unter Recht verstanden wurde, nur teilweise deckungsgleich ist, weil es zum Beispiel auch Bestimmungen zu den religiösen Ritualen enthält, geht auf den Koran und das Hadith zurück, das heißt auf die Überlieferungen von Taten und Reden des Propheten (sie sind uns bei der Erörterung der islamischen Haltung zur Fremdheit bereits begegnet). Auf der Grundlage dieses Materials und der darin überlieferten und daraus zu erschließenden Vorschriften, Regelungen und Ratschläge bildete sich dasjenige Korpus von Gesetzen und Regelungen, das heute als Scharia bekannt ist.

Da dieses Material in Gestalt der kanonischen Hadithsammlungen seit dem 9.Jahrhundert festgeschrieben war – und aus muslimischer Perspektive eigentlich schon seit dem Wirken des Propheten bestand – , ist es, jedenfalls theoretisch, dem Zugriff durch mögliche andere Gesetzgeber entzogen: Es kann nicht mehr geändert und allenfalls durch Interpretation ergänzt werden. Zugleich sind Herrscher und Regierung, sofern sie sich als Muslime verstehen, gehalten, für die Durchsetzung der Scharia zu sorgen. Eine Zwischenposition zwischen den Herrschern und den Beherrschten nimmt die Jurisdiktion ein also die Rechtsgelehrten. Da das Gesetz selbst im Prinzip unveränderlich ist, kommt ihnen eine entscheidende Rolle zu, und es obliegt ihnen, das Recht auf Grundlage der Gesetze an die jeweiligen Gegebenheiten anzupassen, es entsprechend auszulegen.

Damit ist die Gewaltenteilung, zumindest die Trennung von Exekutive und Legislative, im Islam theoretisch so radikal wie in kaum einem anderen politischen Gemeinwesen. Zugespitzt formuliert und wenn es auch angesichts der politischen Verwerfungen in der islamischen Welt heute wenig glaubwürdig klingt: Ein Hitler, ein Ermächtigungsgesetz und dergleichen wären in einem politischen Gemeinwesen, das nach klassischen islamischen Vorstellungen geordnet ist, nicht möglich gewesen. Die Scharia, verstanden als unverfügbares Recht mit nicht nur gesetzlichem, das heißt bloß äußerlich regelndem, sondern auch geistig-moralischen Anspruch bildet so betrachtet eine Brandmauer gegen Willkürherrschaft. Kein Staat, kein Herrscher kann in einem solchen Gemeinwesen die Gesetze selbst schreiben, umschreiben oder außer Kraft setzen. Er könnte allenfalls so tun und die Gesetze (also die der Scharia) ignorieren. Selbst wenn er dies täte und seine eigenen Gesetze etwa mit Gewalt oder durch Korruption durchsetzen würde, kann er die Scharia als moralischen Kompass, als Orientierung stiftendes moralisches und gesetzliches Narrativ, nicht außer Kraft setzen.

Oder nur dann , wenn es ihm gelänge, den Leuten den Glauben zu nehmen – wie es die zeitgenössischen Despoten mit Hilfe der Ideologien des Nationalismus oder Sozialismus denn auch oft versucht haben. In diesem Moment kann durch die Berufung auf die Scharia stets ein als berechtigt geltender Widerstand organisiert werden – was die Popularität der oppositionellen islamistischen Bewegungen in den autokratisch regieren islamischen Staaten erklärt, selbst solchen, die wie Saudi-Arabien islamisch autokratisch regiert werden, dabei allerdings kaum mehr glaubwürdig sind.“

-Stefan Weidner (Jenseits des Westens. Für ein neues kosmopolitisches Denken, S.232ff.)

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Über Nando-Dragan Nuruddin Augener

Nuruddin, Jahrgang 1989, machte 2010 sein Abitur und lebt in Hamburg. Studium der Erziehungswissenschaft und der Soziologie an der Universität Hamburg (2011-2014). Arbeitet zurzeit als Bürokaufmann. Muslim seit September 2016. Kontakt: nd.augener@web.de

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