Umfangen vom herbstlichen Laubfeuer, lag das kleine, pittoreske Häuschen von Osman Efendi. Er saß im abgestorbenen Garten mit einer ranzigen Decke zugedeckt, Mocca trinkend, auf seinem geliebten Schaukelstuhl und sinnierte gedankenverloren vor sich hin. Er blickte in den Himmel, der seit dem Eintritt in die goldene Jahreszeit den fernen Stadtkern von Kütahya, in triste Silhouetten kleidete. Die Gräue und Witterung, die er an den Randbezirken des Städtchens im Laufe der Jahre so schätzen gelernt hatte, ließen ihn immer wieder wehmütig an seine sprühende Jugendzeit auf den ostanatolischen Aprikosenplantagen in Malatya denken. Doch da war sein jetziges Leben. Sein Leben war ohne Trost. Es war weder fesch noch glücklich, wie es erdachte Märchen sind. Etwas musste geschehen. Ohne lange zu überlegen, fand er plötzlich gedankliche Freude an einem freitäglichen Spaziergang durch die verschlungenen Gassen und Straßen der Provinzstadt. Geschwind holte er seinen schmuddeligen Trenchcoat aus dem Haus und ging in Richtung der altehrwürdigen Porzellanwerkstätten von dannen.
Die Straßen der Stadt Kütahya waren porös und unordentlich angetan. Ein eisiger Wind wehte um die Häuser und steigerte sich zu einem unendlichen Fluchen in den unzähligen Unterführungen. Osman Efendi erreichte ein kleines Gässchen. Damals, als er noch voller Ideale war und die bunten Farben der Zukunft in der Luft zirkulierten, kaufte er hier revolutionäre Literatur jeglicher Art. Nun, im Herbst, saßen die alten Buchhändler in ihren Lädchen frierend und warteten den lieben langen Tag vergeblich auf Kundschaft. Einige Ladeninhaber standen gesammelt vor einem kleinen Ofen und wärmten sich ihre knorrigen Hände, die an verdorrte Aprikosenkerne erinnerten. Osman Efendi rekapitulierte seine vergangenen Jahre hier in Kütahya: Die Liebe zu einer Frau ließen ihn Ostanatolien verlassen und hierher kommen. Fiebrig kamen Gedanken hoch, wie er unter der sengenden Sonne mit seiner Geliebten die reifen und vollen Früchte pflückte und ab und an – sich gegenseitig fütternd – heimlich genossen. Doch wie Kafkas Schloss konnte er sie nicht mehr erreichen. Wohlbehütet wurde sie in einem Konak verwahrt und einem fernen Verwandten angedacht und überreicht. Er blieb. Dabei verstieg er sich in Utopien und Ideologien, die er sich in unzähligen durchlesenen Nächten erschloss und die den Trost der Idee versprachen. Doch in Zeiten der dahinschwindenden Jugend, würden sie nur noch ins Leere verlaufen und Dämmerungen produzieren. Er seufzte still in sich hinein und ging hinfort.
Osman Efendi drang langsam zu dem Stadtkern vor. Es wurde reger und lebhafter um ihn herum. Hausfrauen mit ihren kleinen Kindern machten ihre freitäglichen Einkäufe für die hungrigen Männermäuler am Abend. Plötzlich vernahm er ein erhitztes Rufen und Brüllen, welches von einer der näheren Gassen zu ihm drang. Und da waren sie: Rote Fahnen schwenkende Frauen und Kerle, die das Zentrum eines mittelgroßen Marktkernes sprengten. Es war eine anrüchige Vereinigung von cholerischen Dummköpfen, die dieses und jenes schrien. Osman Efendi verspürte auf einmal tiefe innere Abscheu. Schamesröte stieg in sein Gesicht auf und er dachte: „Bei solchen Brülläffchen bin ich früher mitgelaufen?“. Er konnte nur noch entschlossen den Kopf schütteln. Ihm wurde unmittelbar eine Erkenntnis zu Teil, die sich langsam zu einem klaren Gedanken bahnte: „Die westliche Ideengebung wurde unserer muslimischen Kultur aufoktroyiert ohne jede Scham und Anstand!“ Er erschrak und fühlte sich ertappt, etwas Unbotmäßiges verbrochen zu haben. Er, der sich immer als fortschrittlich gab und damals allabendlich das Cognacglas schwenkte…unerhört! Er blickte wirr um sich, doch keine der dahin trottenden Frauen bemerkte etwas. Energisch ging er in Richtung Amüsiermeile von dannen.
Von weitem hörte er schon am helllichten Tag das unschickliche Gegröle aus den Kaffeehäusern und dem stadtbekannten Salon. Hier war der Tummelplatz von neureichen Banausen und arbeitslosen Taugenichtsen. Arm und Reich reichten sich hier die Hand und hinterließen eine ungesunde städtische Melange. „Wie oft war ich hier, um meine Trauer, um der verflossenen Liebe und dem Sumpf der hoffnungslosen Ideologisierung zu entgehen“, dachte er. Er schaute aus der Ferne auf das emsige Herumstolzieren der reichen Burschen in Zielrichtung Salon, die doch nur ein Imitat der westlichen Zivilisation darstellten. „Alles kommt mir vor eine orientalische Version von Thomas Manns ‚Der Zauberberg‘“, überlegte Osman Efendi. Er hörte das Schachern der liederlichen Backgammonspieler und ihr obszönes Gerede. Eine ungeahnte Wut stieg in ihm hoch, die ihm gänzlich unbekannt erschien. „Das stellt doch alles hier eine widerwärtige Verschwörung gegen unseren Glauben, unsere Tradition und unsere Art, die Welt zu sehen, dar!“, rief er auf einmal in die gesichtslose Menge. Es war also geschehen. Er hatte seit langem seinen Gefühlen und Empfindungen freie Bahn gelassen. Gedanken, die er in den letzten Monaten immer wieder erahnt, aber nie auszusprechen gewagt hatte. Menschen starrten ihn unwirsch – wenn nicht gar offen feindlich – an. Er fühlte sich wie ein traditioneller Meddah, der zur Belustigung der Menge Märchen ersann. „Doch das kann nicht sein“, sagte er zu sich selbst. „Meine Wahrnehmung ist nun mehr endlich klar“, murmelte er mehr zu sich selbst. Unter dem Gegröle der schamlosen Freibeuter rannte er mit rotem Gesicht davon.
Osman Efendi gelangte zu einer kleinen Moschee, die sich sanft an eine natürliche Erhebung schmiegte. Sein Blick fiel unmittelbar auf einen winzigen, einsamen Aprikosenbaum, der, ganz unüblich für diese Jahreszeit, volle Früchte trug. Verwunderung machte sich in seiner Seele breit. „Was für ein merkwürdiger Tag“, dachte er und schüttelte leicht den Kopf. Vor der Moschee herrschte hingegen reges Treiben: Kein Wunder, die Zeit des allwöchentlichen Freitagsgebets war angebrochen und Jung und Alt tummelten sich, wie Straßentauben um einen Brotkrumen, vor dem Eingang. Er beschloss, sich dem Taubenpulk anzuschließen. Die kleinen Маrmorsäulen, die die bauchige Decke trugen, erglänzten über den makellosen roten Teppich. Ein Geruch von Moschus und Ambra waberte in der dämmrigen Luft. Der altertümlich anmutende Imam setzte zur Predigt an: „Es liegt alle unwiderlegbare Beseligung, klare Befriedigung, feiner und reiner Genuss mit Gewissheit in der Gotteserkenntnis und der Gottesliebe. Eines kann ohne das andere nicht sein. Wer Gott den Gerechten kennt und liebt, empfängt ohne alle Grenzen glanzvolle Glückseligkeit. Wer Ihn nicht wirklich kennt und liebt, muss hingegen physisch wie psychisch Leiden und grenzenlose Not erfahren.“ Als der greise Imam seine Predigt beendet hatte und das freitägliche Gebet vollzogen war, ging Osman Efendi auf leisen Sohlen davon. Er verspürte nach diesem Strahl an wahren Worten eine noch nie dagewesene innere Ruhe und einen Frieden, der seinesgleichen suchte. Ihm war als würde er die Vögel des Paradieses hören. Er hatte nun einen weiten und kurzen Heimweg vor sich. Und als er sich nun in die Straßen und Gässchen versenkte, war Gott auch dort. Er würde ihn bis zu seinem baldigen Tode begleiten. Die Sonne bahnte sich ihren Weg durch die tristen Wolken. Sie begann zu leuchten. Osman Efendi verschwand in einem weißen Licht, das die ersehnte Klarheit versprach.
„Abu Umama, Allahs Wohlgefallen auf ihm, berichtete, dass der Prophet, Allahs Segen und Friede auf ihm, sagte: „Allah, Der Allmächtige und Erhabene sprach: ‚Der Glückseligste bei Mir unter Meinen Nahestehenden ist ein gläubiger Diener, der wenig besaß, wenige Personen zu versorgen hatte, und sich dem Gebet reichlich widmete. Er war der, der seinen Herrn verehrte und Ihm insgeheim Gehorsam leistete; er trat unter den Menschen unauffällig auf, und auf ihn wurde nicht mit dem Finger gezeigt. Seine Versorgung war knapp, und er ertrug dies geduldig. ‚Der Prophet schüttelte was von seiner Hand ab und sagte: Sein Tod wurde von Allah beschleunigt, diejenigen, die ihn beweinten, waren wenig, und sein Nachlass war gering.‘“
(Hadith Qudsyy, überliefert bei Al-Tirmidyy, Ahmad und Ibn Maga)