„Eines Freitags begleitete ich meinen Freund in die Umajjaden-Moschee. Die Marmorsäulen, die die gewölbte Decke trugen, erglänzten über den kostbaren roten und blauen Teppichen. Ein Geruch von Moschus und Ambra schwebte in der dämmrigen Luft. In langen, regelmäßigen Reihen standen viele Hunderte von Menschen hinter dem imam, der das Gebet leitete, verneigten sich, knieten nieder, berührten den Boden mit der Stirn und richteten sich wieder auf: und alle ihre Bewegungen waren gemeinsam, wie die von Soldaten.
Es war sehr still; wenn die Gemeinde aufrecht stand, tönte die Stimme des greisen Imams aus der Tiefe des riesigen Saales hervor, er trug Verse aus dem Koran vor; und wenn er mit dem Sprechen innehielt, sich verneigte und zu Boden warf, folgte ihm die ganze Gemeinde wie ein Mann, sich vor Gott verneigend und vor Ihm niederfallend, als stünde Er sichtbar vor ihren Augen …
In jenem Augenblick begriff ich, wie nahe Gott und Glaube diesen Menschen war. Ihr Gebet war nicht von ihrem Arbeitstag geschieden; es gehörte zu ihm; es war nicht dazu da, das tätige Leben zu vergessen, sondern ein Mittel, seiner besser und tiefer zu gedenken, indem man Gottes gedachte.
»Wie seltsam und wunderbar«, sprach ich zu meinem Freund, als wir die Moschee verließen, »daß Gott eurem Empfinden so nahe ist. Wäre ich doch imstande, Ähnliches zu empfinden! « »Wie sollte man Gott denn anders empfinden, mein Bruder? Ist Er denn nicht, wie unser Heiliges Buch sagt, dir näher als die Schlagader deines Halses?«
Angespornt von dieser neuen Wahrnehmung, verbrachte ich viele Stunden über Büchern, die vom Islam handelten. Einige davon ergatterte ich mir in einer Damaszener Bibliothek, andere beschaffte mir mein Freund. Wenngleich mein Arabisch für mein Alltagsbedürfnis vollauf genügte, war es doch noch zu mangelhaft, um den Koran frei im Original zu lesen, und so mußte ich mir zwei Übersetzungen – eine französische und eine deutsche – zu Hilfe nehmen und mich im Übrigen auf Werke europäischer Orientalisten sowie auch auf die Erklärungen meines Freundes verlassen.
So brockenhaft diese Studien und Gespräche auch waren, so gaben sie mir dennoch einen guten Einblick in den Islam. Ein Vorhang hob sich langsam über einer Gedankenwelt hoch, von der ich bis dahin keine Ahnung hatte. Der Islam schien nicht so sehr eine Religion im üblichen Sinne als ein Lebensgesetz zu sein; kein metaphysisches Suchen, sondern diesseitige Lehre – auch dann, wenn vom Jenseits die Rede war; nicht nur ein theologisches System, sondern auch Führung in allen persönlichen und gesellschaftlichen Belangen. Gottesbewusstsein schien das Ziel zu sein. Das menschliche Leben war positiv aufgefaßt und bejaht.
Nirgends im Koran konnte ich einen Hinweis auf die Notwendigkeit einer mystischen >Erlösung< finden; keine Erbsünde stand da zwischen dem Menschen und seinem Schicksal – denn, wie der Koran betonte, jeder Mensch ist nur für das verantwortlich, was er selbst tut und erstrebt. Keine Askese war da erforderlich, um eine geheime Pforte zur Reinheit aufzutun – denn Reinheit sei dem Menschen bei Geburt beschieden: und >Sünde< bedeutete demnach nichts anderes als ein Abfall von den eingeborenen positiven Eigenschaften, die Gott jedem Menschen zuteilwerden lässt.
Auch sah ich im Koran keine Spur von irgendeinem Dualismus in Bezug auf die Natur des Menschen: Seele und Körper erschienen in dieser Lehre als zwei Aspekte einer unverbrüchlichen Einheit.“
-Muhammad Asad (Der Weg nach Mekka, S.163f.)