Liberalismus mal anders betrachtet (1. Teil)

von Yahya ibn Rainer

Dies sind die (ungefähren) Worte des großen islamischen Gelehrten Imam Abū Ḥāmid Muḥammad bin Muḥammad al-Ġazālī -Allah sei ihm gnädig-.

„Daraus ist in voller Klarheit ersichtlich, dass diese Leute die schlechtesten Geschöpfe Allahs und der Gemeinde des Propheten sind und ihre Heilung hoffnungslos ist, und es zwecklos ist, mit ihnen zu diskutieren und sie zu beraten, dass es notwendig ist, sie auszurotten und ihr Blut fliessen zu lassen. Ein anderes Mittel sie zum Rechten zu führen, gibt es nicht. ‚Allah vollbringt mit Schwert und Speer, was Er nicht durch Beweis vollbringt.'“

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Freilich eine erschreckend harte Aussage, speziell von diesem Gelehrten, der eigentlich für seine barmherzige und liebevolle Art bekannt war. Was veranlasste diesen ehrwürdigen und großartigen Gelehrten, ein solch rigides Urteil zu fällen? Wer waren diese Leute?
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Ihre Bezeichnung zur damaligen Zeit war al-Ibahiyya. Es handelte sich um eine Gruppe von Menschen, die die Ansicht vertraten, dass die tradierten religiösen Gesetze nicht verbindlich seien und sämtliche darin enthaltenen Gebote und Verbote grundsätzlich als mubah (frei zu tun) gelten, insbesondere im Bereich der Sittengesetze.
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Deutschsprachige Orientalisten übersetzten den Begriff Ibahiyya trefflich mit Libertinisten und es ist unbestreitbar, dass sie die frühen Vorläufer des gegenwärtigen morgenländischen Liberalismus waren.
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Der zeitgenössische Liberalismus des Morgenlandes unterscheidet sich eigentlich nicht großartig vom damaligen. Auch heute fordern die Liberalen des Orients offen und mit aller Entschlossenheit, dass das Schariarecht nicht staatlich implementiert gehört (Säkularismus, Laizismus) und das jeder selbst entscheiden sollte ob er die islamischen Sittengesetze befolgen möchte oder auch nicht. Unterschiede finden wir – im Vergleich zu heute – lediglich in ihrer äußerlichen Erscheinungsform, denn diese Bewegung hatte ihren Ursprung im damaligen Sufitum und so gaben sich die Libertinisten zu al-Ghazalis Zeiten auch äußerlich als solche zu erkennen. Heute allerdings sind neben Sufis auch Kommunisten, Sozialisten und Demokratisten mit von der Partie (wie z.B. in Ägypten).
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Der Liberalismus – also die Lehre von der Freiheit des Individuums -, egal ob nun der morgenländische oder abendländische, richtet sich grundsätzlich immer gegen äußerlichen Zwang. Im Morgenland war es das Schariarecht, das von den Libertinisten (und späteren Liberalen) als despotisch empfunden wurde, weil dieses tradierte Recht fraglos Geltung hatte, wie es der Islam – als Gesetzesreligion – nun einmal vorschreibt .
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Im abendländischen Europa jedoch sah das anders aus. Mit dem Christentum dominierte hierzulande eine Religion, die sich nicht als Gesetzesreligion verstand, sondern als insich heilbringend. So galt in vielen Gegenden des mittelalterlichen und frühmodernen Europas (mehr oder weniger) das antike Römische Recht, dass ebenfalls ein tradiertes, jedoch nicht fraglos geltendes Recht war. Es konnte also hier und dort von der später mehr und mehr absolutistischen Legislative (Gesetzgebung) der Herrscher in den jeweiligen Großreichen und Kleinstaaten aufgeweicht bzw ersetzt werden, ohne das dieses grundsätzlich als unrecht bzw ungerecht galt.
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Die ersten Fälle von Legislative (sprich: menschengemachter Gesetzgebung) gegen das tradierte Recht, hatten im damaligen Europa schlicht und ergreifend nur einen einzigen Zweck, nämlich die Ausbeutung der Untertanen durch den gegenwärtigen absolutistischen Herrscher. Es waren zumeist diverse Arten von Steuern und Abgaben, die sich die Herrscher ausdachten und sodann zu allgemeingültigen Gesetzen werden ließen. Aber auch das Sittengesetz war für den absolutistischen Gesetzgeber kein Tabu.
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Wirklichen und ernstzunehmenden Widerstand gegen geltendes Gesetz gab es in Europa verständlicherweise also erst, als Menschen begannen sich die Allmacht anzumaßen, tradierte Rechte abzuschaffen, zu ersetzen oder durch endlos weitere selbsterdachte Gesetze einzuschränken.
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Und hier kommen wir zum maßgeblichen Unterschied zwischen dem abendländischen und morgenländischen Liberalismus. Im Morgenland richtete sich der Liberalismus gegen das tradierte Recht, das über jedem Herrscher stand, also nicht abgeschafft, ersetzt oder eingeschränkt werden durfte. Im hiesigen Abendland jedoch begehrte man zumeist gegen die Gesetze der Herrscher auf, die das althergebrachte tradierte Recht zerstörten.
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Mit dem Liberalismus des Orients möchte ich mich in diesem Beitrag nicht auseinandersetzen, dazu kenne ich mich zu wenig mit den dortigen Geisteswissenschaften aus. Aber der klassische Liberalismus des Okzidents jedoch hat es mir schon seit einigen Monaten schwerst angetan. Die Tatsache, dass das Christentum eine Heilslehre ohne verbindliche Gesetzgebung aufweist, machte es für die Menschen in diesen Gefilden notwendig darüber nachzusinnen, wie Gesellschaft, Recht und Gesetz auszusehen hat. Diese Anforderung an die Menschen belebte in Europa die alte Schule der Philosophie. Für alle Bedürfnisse der Lebensführung entwickelten sich philosophische Bereiche, wie die politische Philosophie, die Rechtsphilosophie, die Moralphilosophie, die Freiheitsphilosophie, … uvm.
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Es waren mitunter hochintelligente und honorige Herrschaften, die sich den Kopf darüber zerbrachen, welchen Sinn das Leben, der Mensch und sein Tun hat und welcher moralische, sittliche, rechtliche und gesetzliche Rahmen hierzu am passendsten, nützlichsten und gerechtesten sei. Welch eine große Aufgabe für die nicht unfehlbare Gattung Mensch. Viele Gesellschaftformen wurden so konstruiert, viele althergebrachte Traditionen relativiert und manch eine Generation musste die Resultate dieses Konstruktivismus und Relativismus schmerzhaft ausbaden.

Hier im Abendland glaubte man, durch die Abschaffung der absolutistischen Monarchie (Gesetzgebung durch einen Alleinherrscher) und Relativierung religiös-moralischer Grundwerte, eine Lösung für das Problem von Despotie und Knechtschaft gefunden zu haben. Mit der französischen Revolution läutete man eine neue Epoche ein und ersetzte die Souveränität des Monarchen und den Einfluss der Religion durch eine säkularisierte Volkssouveränität. Diesem Beispiel folgten später auch andere Völker und Nationen und es kam der Amerikanische Bürgerkrieg (Resultat: Demokratie), die Russische Revolution (Resultat: Sowjetsozialismus) und die Deutschen Revolutionen (Resultate: Republik und Nationalsozialismus) … allesamt einzigartig an Grausamkeit und Opferzahl.

All diese epochalen Umwälzungen waren gewissermaßen das Resultat philosophischer Konstrukte, die nach ihrem offensichtlichem Scheitern nicht etwa eingestampfte, sondern von unbelehrbaren Ewiggestigen ins Morgenland exportiert wurden.

Paul Berman, ein bekannter us-amerikanischer „liberaler“ Falke, schrieb in seinem Buch Terror und Liberalismus u.a. folgendes:

„Die gesamte muslimische Welt ist von deutschen Philosophien aus längst vergangener Zeit überschwemmt worden – den Philosophien des revolutionären Nationalismus und Totalitarismus, clever in muslimische Dialekte übersetzt. Lassen wir die Deutschen in der gesamten Region von Tür zu Tür gehen und eine Rückrufaktion durchführen. Sie können sich nützlich machen.“

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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