Als Salafit zu Gast bei einem Sufi-Sheikh (Teil 1)

von Yahya ibn Rainer

Ich machte mich am Samstag auf eine recht mühsame Reise in den Osten der Republik. Ziel dieser Reise war Trebbus, ein ehemaliges Dorf, das heute als Ortsteil zur Gemeinde Doberlug-Kirchhain gehört. In dieser brandenburgischen Idylle, etwa 30 km westlich von Finsterwalde und 125 km südlich von Berlin, lebt ein mir sehr nahestehender Bruder im Islam, der dort einen kleinen heruntergekommenen Bauernhof ersteigerte und diesen mühe- und liebevoll renovierte.

Jamal, so sein Name, ist wie ich ein deutscher Islamkonvertit, allerdings mit dem Unterschied, dass er bereits im Jahre 1975 konvertierte, also im gleichen Jahr als der kleine Jens das Licht der Welt erblickte. Damit gehört Jamal einer ganz anderen Generation von Konvertiten an als ich und viele andere in Deutschland.

Zu seiner Zeit gab es längst nicht so viele Muslime hierzulande und deutsche Konvertiten konnte man wohl an 3-4 Händen abzählen. Somit rückte man zusammen und organisierte sich. Viele heute bekannte Namen, wie Abdullah Bubenheim, Muhammad Siddiq, Abdul Karim und Fatima Grimm, Ahmad von Denffer usw. haben aus dieser frühen Zeit partizipiert und kennen sich von daher. Auch der Bruder Jamal erlebte diese frühe Phase der deutsch-muslimischen Gemeinde und kennt fast alle bekannten Namensträger dieser Zeit persönlich.

Ebenfalls ein Muslim aus dieser frühen Generation ist Abdullah Halis Dornbrach, der bereits in den 60er Jahren konvertierte und heute ein Sufi-Sheikh des Mevlevi-Ordens ist. Seine Sufi-Tekke befindet sich auch in Trebbus, ein ebenfalls renovierter, aber weitaus größerer Hofkomplex, mit Musalla, Sohbet-Raum, Laden und zahlreichen Gästewohnungen.

Jamal, der sich selbst als „Salafit“ (ohne s) versteht, lebte und arbeitete die meiste Zeit seines Lebens in arabischen und afrikanischen Ländern und erfüllte sich mit diesem Hof in der brandenburgischen Pampa einen kleinen Traum. Die Nähe zu einer muslimischen Gemeinde wollte er jedoch nicht missen, was auf dem Lande im Osten der Republik jedoch fast unvermeidbar ist. So kam ihm dieses größere muslimische Zentrum ganz recht, vor allem auch, weil es von einem Volksgenossen aus alten Tagen geführt und auch von vielen deutschen Muslimen frequentiert wurde. Vom Sufismus allerdings hatte er, nach eigenem Bekunden, zuvor noch nicht so viel gehört.

Nun gab dieser Sufi-Sheikh vor etwa 2 Jahren einmal ein Interview für die Lausitzer Rundschau, in dessen Rahmen er äußerte, dass Salafisten „ein Krebsgeschwür“ seien, die keine Ahnung vom Koran hätten usw.. Eine harte Äußerung, die einen Muslim, der von außen als „Salafist“ wahrgenommen und betitelt wird, natürlich nicht unberührt lässt. Also wollte ich meinen Besuch bei Jamal mit einem Besuch beim Mevlevi-Orden verbinden und diesen Sheikh einmal persönlich kennenlernen.

Nun muss ich einiges im vornherein unbedingt klarstellen. Heutzutage wissen ja alle möglichen Subjekte etwas über den sogenannten „Salafismus“ oder den „Wahhabismus“ zu erzählen. Journalisten – kurzerhand zu Islamexperten erklärt – , staatsalimentierte Vereine und behördliche Experten bilden die Deutungshoheit für diese Begrifflichkeiten. Sie alle wissen ganz genau was in den Köpfen dieser Muslime vor sich geht und kennen die Motive und Ziele eines jeden Individuums, das sie in dieses begriffliche Korsett einschnüren. Dabei wird natürlich fleißig dafür gesorgt, dass diese menschlichen Wesen (ja, wir haben Körper und Seele und haben Gefühle) nicht in die Lage versetzt werden öffentlich selbst Kunde darüber abzulegen, wie sie ihre Religion und deren Praxis auslegen und praktizieren (wollen).

Ein – besonders unter Muslimen – verbreitetes Vorurteil ist die kategorische Ablehnung des Sufismus unter allen „Salafisten/Wahhabiten“. Das ist freilich absoluter Humbug. Wie mich, gibt es zahlreiche andere Salafiten, die als grundlegend wichtige Wissenschaft im Islam, neben der Aqida (Glaubenslehre) und dem Fiqh (Rechtslehre), auch die Wissenschaft der Herzen (Ulum al-Qulub) anerkennen und für notwendig halten. Denn der Glauben im Islam (Iman) wird bestätigt durch die Handlungen (Amal), welche durch die Rechtslehre (Fiqh) festgelegt werden, jedoch ist ein unabdingbarer Bestandteil einer jeden Handlung, neben der korrekten Ausführung, auch die Absicht (Niyya), und diese sollte dringend von Aufrichtigkeit (Ikhlas) begleitet werden.

So wie wir Muslime die Aqida von unseren Aqida-Gelehrten erlernen und den Fiqh von unseren Fiqh-Gelehrten, so werden wir von anderen Gelehrten an die Aufrichtigkeit herangeführt, quasi dazu erzogen. Und diese Wissenschaft, diese Wissenschaft der Herzen, welche maßgeblich für unsere Aufrichtigkeit ursächlich sind, nannte man schon relativ früh in der Islamischen Geschichte al-Tasawwuf (Sufismus).

Gleich den anderen Wissenschaften, bildeten sich auch hier verschiedene Schulen bzw. Wege, die jeweils versuchten, den Schülern eine spirituelle Tiefe angedeihen zu lassen, die es ihnen ermöglichen sollte ihrem HERRN (rabb) möglichst nahe zu sein, Ihn womöglich immer gegenwärtig zu spüren und somit den Handlungen die nötige Aufrichtigkeit zu verleihen.

Weder Imam Ahmad ibn Taymiyya, der als Inspirator und Grundleger des zeitgenössischen Salafi-Bewegung geltend gemacht wird, noch Imam Muhammad ibn Abd al-Wahhab, der als Begründer des sogenannten „Wahhabismus“ gilt, haben den Sufismus kategorisch abgelehnt, vielmehr haben sie ihn hoch geschätzt und in ihren Rechtsgutachten seinen Nutzen gepriesen. (Hierzu zwei englischsprachige Beiträge: Shaykh Muhammad bin ‘Abd al-Wahhab and Sufism & Sufism and the Imams of the Salafi Movement: Introduction)

Ich bin also nicht in diese Sufi-Tekke gegangen, um mit dem dortigen Sheikh über Sinn und Unsinn des Sufismus zu streiten, sondern u.a. um zu schauen, welche Medizin dieser Führer und Meister einer Sufi-Tariqat aufzubringen in der Lage ist, wenn ein vom ihm sogenanntes „Krebsgeschwür“ bei ihm zu Gast am Tische sitzt. Wird er es als bösartig diagnostizieren, gar als invasiv, und wird es sofort und radikal operativ entfernen. Oder wird er durch Bestrahlung oder andere alternative Therapeutik versuchen es zurückzubilden? Oder wird er gar letztendlich erkennen, dass dieses „Geschwür“ gar nicht bösartig ist, sondern gutartig oder vielleicht sogar doch ein fester und normaler Bestandteil des Körpers?

Fortsetzung folgt …

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

3 Gedanken zu „Als Salafit zu Gast bei einem Sufi-Sheikh (Teil 1)

  1. Mein Besuch im Mevlevihane

    Es war mir seit vielen Jahren ein Wunsch gewesen, das Trebbuser Mevlevihane kennenzulernen, nachdem ich Scheich Abdullah Halis Dornbrach bereits früher kennengelernt und zahlreiche Bilder vom Mevlevihane gesehen hatte. Als ich vor über einem Jahr nach Berlin kam, packte ich die Gelegenheit und mein Gastgeber, ein jemenitischer Bruder, hatte einen Wagen, die Zeit und die Bereitschaft, mit mir dorthin zu fahren.
    Was immer man von Sufismus halten will, Scheich Abdullah Halis Dornbrach ist jedenfalls eine muslimische Persönlichkeit im wahrsten Sinne des Wortes. Da das Mevlevihane abgelegen liegt, meinte er: „Hierher kommt nur, wer auch hierher kommen möchte, keine flüchtigen Besucher, die eben mal so vorbeikommen.“
    Er erwähnte, daß er eine Erlaubnis zum islamischen Schächten besitzt und meinte: Die meisten Muslime achten nur darauf, daß das Fleisch von den Tieren ḥalāl ist, übersehen dabei jedoch, daß es auch „gut“ (ṭayyib) sein soll (vgl. Suren 2 al-Baqara 165; 5 al-Māʾida 88; 16 an-Naḥl 114), womit gemeint ist, daß die Tiere natürlich (mit Auslauf) und ohne Leiden aufgezogen worden sein, ohne Quälerei zum Schlachthof gebracht und dort ohne Mißhandlung geschlachtet werden sollen. Sie sollen auf dem Transport weder Hunger noch Durst leiden und auch nicht vor den Augen der auf ihre Schlachtung wartenden Tiere geschlachtet werden. Da dies meistens nicht gewährleistet ist, sind schon einige Muslime Vegetarier geworden.
    Weiterhin sprach er darüber, daß die Christen noch das alte Gottesbild aus heidnischer Zeit bewahrt haben: der im Himmel thronende Gottvater mit langem Bart usw. Bei den alten Griechen und Römern residierte die Götterfamilie auf dem Berg Olymp, bei den Christen thronen Vater, Sohn und Heiliger Geist im Himmel. Dieses Gottesbild ist aber dem islamischen fremd und weit von ihm entfernt.

    Exkurs:
    Dazu sage ich: Im Alten Testment der Bibel finden wir ein sehr vermenschtlichtes Gottesbild, und wir Muslime sollten uns sehr davor hüten, dieses auch nur annähernd zu übernehmen. Leider haben einige Isrāʾiīliyyāt, jüdische Lügengeschichten, sogar in den Ṣaḥīḥ-Sammlungen Buḫārīs und Muslims Eingang gefunden, worauf die folgende Überlieferung hinweist. Der Prophetengefährte Abū Huraira hatte durch den Segen des Gesandten Allahs – Allah segne ihn und seine Familie und schenke ihnen Wohlergehen – ein sehr gutes Gedächtnis bekommen, was ihn dazu verleitete, unvorsichtiger- und leichtsinnigerweise sehr viel zu überliefern, und nicht nur Ḥadīṯe des Propheten – Allah segne ihn und seine Familie und schenke ihnen Wohlergehen –, sondern auch von anderen Leuten, wie von Ka´b al-Aḥbār, einem ehemaligen Juden, der zum Islam konvertiert war. ʿUmar ibn al-Ḫaṭṭāb war bezüglich der Annahme von Hadithen sehr vorsichtig gewesen und hatte mindestens zwei Zeugen für eine Überlieferung vom Propheten – Allah segne ihn und gebe ihm Heil – verlangt und Abū Huraira daran gehindert, leichtfertig zu überliefern. Erst nach ʿUmars Tod legte Abū Huraira ungehindert los, und viele – wenn nicht die meisten – der von ihm überlieferten Hadithe hatte er nicht von Allahs Gesandten – Allah segne ihn und seine Familie und schenke ihnen Wohlergehen – selbst gehört, sondern von anderen Prophetengefährten und überlieferte sie weiter, ohne sie als Quelle und ihre Namen zu nennen – was nach den Regeln der sunnitischen Überlieferungswissenschaft zulässig ist, da hier ein vertrauenswürdiger Überlieferer von anderen vertrauenswürdigen Tradenten überlieferte. Allerdings muß man dann davon ausgehen, daß zahlreiche als mutawātir angesehene Hadithe in Wirklichkeit nicht mutawātir sind, sondern āḥād, da Abū Huraira sie nicht direkt vom Propheten hatte, sondern von einem der anderen Gefährten, von dem sie auch über andere als Abū Huraira weiter überliefert wurden, was bedeutet, daß der Erstüberlieferer nur ein einziger war und nicht zwei.
    So berichtet Bukair ibn al-Ašaǧǧ von Yusr ibn Saʿīd, daß dieser sagte: „Fürchtet Allah und übt große Vorsicht bei der Überlieferung von Ḥadīṯen. Ich habe erlebt, wie wir mit Abū Huraira zusammensaßen und er uns dann Ḥadīṯe von Allahs Gesandtem – Allah segne ihn und gebe ihm Heil – und von Kaʿb übermittelte. Wenn er hierauf aufgestanden war, hörte ich einige von denen, die mit uns zusammen gewesen waren, die Ḥadīṯe von Allahs Gesandtem zu denjenigen von Kaʿb machen und umgekehrt.“ [Siyar Aʿlām an-Nubalāʾ, II, 606 u. al-Bidāya wa-n-Nihāya, VIII, 109, mit einwandfreier (ṣaḥīḥ) Überliefererkette].
    Tatsächlich haben viele dieser zweifelhaften Ḥadīṯe jüdische Merkmale und widersprechen dem Koran, anderen Ḥadīṯen, mehrheitlich feststehenden islamischen Glaubenslehren, heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen und dem gesunden Menschenverstand. Als ich einmal einen Muslim der Salafi-Richtung fragte: „Was ist, wenn ein als ṣaḥīḥ eingestuftes Hadith einer wissenschaftlichen Tatsache widerspricht?“ antwortete er: „Unmöglich!“ Es ist jedoch nicht nur möglich, sondern es gibt zahlreiche Belege hierfür.
    Dr. Muḥammad Saʿīd Ḥawwạ̄ sagt hierzu:
    „Die Vorstellung, daß die Umma Buḫārīs und Muslims Ṣaḥīḥ-Sammlungen mit großer Zustimmung angenommen hat, ist mit der Vorstellung vermischt worden, daß sie die authentischsten Bücher nach dem Qurʾān sind. Sodann ist diese Vorstellung allgemein verbreitet worden, um zu der Vorstellung zu werden, daß alles in den beiden Ṣaḥīḥ-Sammlungen vollkommen einwandfrei (ṣaḥīḥ) sei.
    Wie wir festgestellt haben, haben die nachprüfenden Gelehrten diese Meinung nicht uneingeschränkt übernommen, und trotz der Formulierung, daß die beiden Ṣaḥīḥ-Sammlungen die authentischsten Bücher sind, wird von allen diesen Gelehrten, wie an-Nawawī, al-ʿIzz ibn ʿAbd as-Salām, al-ʿIrāqī und Ibn Taimiyya überliefert, daß einige Ḥadīṯe in den Ṣaḥīḥ-Sammlungen Gegenstand der Kritik, des Studiums und der Prüfung gewesen sind.“
    Die Gelehrten haben dann die unglaublichsten sprachlichen, gedanklichen und der Logik zuwiderlaufenden Verrenkungen angestellt, um den Inhalt dieser Hadithe scheinbar in Einklang zu bringen, nur um die Authentizität dieser Überlieferungen nicht zu leugnen und nicht zugeben zu müssen, daß Buḫārī und Muslim Fehler gemacht haben und durch Sicherheitslücken im System Überlieferungen eingedrungen sind, die nicht vom Propheten – Allah segne ihn und seine Familie und schenke ihnen Wohlergehen – stammen, aber irrtümlich als solche und als einwandfrei (ṣaḥīḥ) eingestuft worden sind.
    Die Angehörigen der Salafi-Richtung des Islams akzeptieren solche zweifelhaften Ḥadīṯe uneingeschränkt – wohl unter der falschen Voraussetzung, daß Imam al-Buḫārī unfehlbar gewesen sei – und bauen darauf Teile ihrer Glaubenslehre auf, wobei sie Allah – Preis sei Ihm und erhaben ist Er über das, was sie ihm zuschreiben – Körperteile und Sinnesorgane zuschreiben. Auch wenn sie behaupten, diese „Eigenschaften“ seien keiner derjenigen irgendeines Geschöpfes gleich, so läuft dies zwangsläufig darauf hinaus, daß die Menschen in ihrer Vorstellung Allah letztlich menschliche Gestalt geben. Es sind keine Körperteile und Sinnesorgane „ohne Wie“ vorstellbar, und ich nenne sie auch nicht „Eigenschaften“ oder „Attribute“, sondern das, was sie sind, nämlich Körperteile und Sinnesorgane. Auf Grund eines solchen zweifelhaften und schwachen Ḥadīṯes bei Buḫārī schreiben sie Allah sogar einen Unterschenkel, bzw. ein Schienbein zu. Die Deutung solcher Koranstellen, in denen Körperteile oder Sinnesorgane in Bezug auf Allah erwähnt werden, weisen sie als „verwerfliche Neuerung“ (bidʿa) zurück und behaupten fälschlich, ihre anthropomorphistische Glaubenslehre sei über die Geschichte hin die Glaubenslehre der Mehrheit von Ahl as-Sunna wa-l-Dschamāʿa gewesen, während sie die Glaubenslehre, die eine Deutung solcher koranischer Ausdrücke und Bilder weg von Anthropomorphismus zuläßt, als „falsch“ bezeichnen.
    Die Salafis betrachten auch Dhikr in Gemeinschaft als Bidʿa, während sich dies anhand von Überlieferungen und logischen Überlegungen widerlegen läßt. Da nachgewiesen die Prophetengefährten auch laut hörbar Worte äußerten, die als Dhikr anzusehen sind, und dabei in Gemeinschaft versammelt waren, ist natürlicherweise davon auszugehen, daß sie sie koordiniert im Gleichklang und nicht jeder für sich gesondert sprachen, da dies ansonsten zu Chaos und einem wilden Stimmengwirr geführt hätte. Doch solchen Argumenten gegenüber zeigen sich die Salafis verschlossen und abwehrend.

    Also, was Scheich Abdullah Halis wohl sagen wollte, ist, daß wir Muslime von solchen anthropomorphen Vorstellungen und dem Gottesbild der Juden und Christen loskommen sollten.
    Gewiß sollte man die Entgleisungen einiger Sufis nicht verallgemeinern, und es gibt Sufi-Scheichs, wie Scheich Nūḥ Ḥā Mīm Keller in der jordanischen Hauptstadt Amman, die man von einigen Äußerlichkeiten her für Salafis halten könnte. So hält er sich bspw. streng an das islamische Bilderverbot und das (vermeintliche) Musikverbot. Er achtet auf die Einhaltung der Geschlechtertrennung und empfiehlt den Schwestern sehr, Niqāb zu tragen. Zuschauer werden beim Ḥaḍra genannten gemeinschaftlichen Dhikr nicht geduldet, da es sich hierbei nicht um eine folkloristische Darbietung handelt; Besucher müssen entweder mitmachen oder den Raum verlassen. Das erste, was er von seinen Schülern fordert, ist die pünktliche Verrichtung der fünf täglichen Pflichtgebete und danach, die Zunge zu hüten. Bezüglich der Zitierung von Hadithen meinte er einmal: „Wir leben heute im Zeitalter der Salafis, und da müssen alle Hadithe belegt sein.“ Man kann also sagen, zwischen ihm und dem verstorbenen Scheich Nazim al-Qubrusi besteht ein himmelweiter Unterschied, wie auch ein gewisser Unterschied zwischen ihm und Scheich Abdullah Halis, obwohl sie alle dem Sufismus zugerechnet werden.
    Der Scheich hat in diesem Anwesen in der ehemaligen Scheune, die zeitweise auch als Tanzboden genutzt worden war, einen großen Saal als Moschee und Versammlungsraum für die Sufi-Übungen eingerichtet. Dort befinden sich auch zwei Zellen für Klausur (khalwa). Jede enthält eine einfache Bettstelle, einen Hocker und ein Pult zum Lesen. Sie hat einen quadratischen Grundriß und ist gerade so lang wie die Bettstelle. Außen befindet sich eine rote Lampe, um anzuzeigen, wann eine Zelle besetzt ist. Zum Sufismus gehört es, daß jeder neue Schüler eine solche Klausur machen sollte, in der er eine Anzahl von Tagen ganz zurückgezogen in dieser Zelle verbringt, ohne mit jemandem zu sprechen – außer mit Allah. Er verläßt sie nur zur Verrichtung der fünf täglichen Gebete und zur Verrichtung der Notdurft und Essenseinnahme. Welche Anrufungen von Allah er dort wiederholt spricht und auf welche Weise, ist meistens ein Geheimnis zwischen ihm und seinem Scheich. In den Augen der Salafis mag das Bid´a sein, letztlich ist diese Art des besonderen Gottesdienstes jedoch auf den Propheten – Allah segne ihn und seine Familie und schenke ihnen Wohlergehen – zurückzuführen, der sich vor seiner Berufung zum Propheten und auch noch kurze Zeit danach allein in eine Höhle auf dem Berg Ḥirāʾ bei Mekka zurückzog. Als er in Medina Oberhaupt des ersten islamischen Staates war, konnte er das nicht mehr in dieser Form tun, da er als oberster Verantwortungsträger im Notfall jederzeit erreichbar sein mußte. Stattdessen zog er sich im letzten Drittel des Monats Ramaḍān in ein dazu in der Moschee aufgeschlagenes Zelt zurück. Das war dann seine Khalwa, und sein Scheich war Gabriel (Ǧibrīl). Wenn nun jemand diese Art der seelischen Läuterung durchführen möchte, dazu aber im Monat Ramaḍān vielleicht aber keine Zeit hat und die gewöhlichen Moscheen dazu ungeeignet sind, warum soll er dann darauf verzichten – nur weil einige Muslime meinen, dies sei eine „verwerfliche Neuerung“?
    Bei Scheich Abdullah Dornbrach lernten wir auch ein einfaches deutsches Halal-Essen kennen, als wir mit den im Mevlevihane Anwesenden zu Mittag aßen: Kartoffeln mit Spinat und dazu Pastirma vom selbstgeschlachteten Ziegenbock. Als unverheirateter Student war ich von einem tschetschenischen Naqschbandi-Scheich einmal zum Mittagessen eingeladen worden: Spiegeleier mit Brot. Nach dem Essen wischte er sorgfältig die Brotkrumen in seine Hand und aß sie, damit nichts weggeworfen wird. Wenn einen Sufi-Scheichs zu solch einfachen, aber sättigenden Mahlzeiten einladen, ist das schon beeindruckend, während viele andere Muslime sich scheuen, einen zum Essen einzuladen, weil sie einem nichts Einfaches vorsetzen möchten, oder einem ein Schauessen anbieten.

    Im Trebbuser Mevlevihane gibt es eine interessante Bibliothek mit alten gedruckten und sogar handgeschriebenen Büchern, die jedoch der Ordnung durch einen Bibliothekar bedarf. Unter den dort vorhandenen Titeln erblickte ich auch Ludovico Marraccis lateinischen Koranübersetzung mit Widerlegung (Refutatio). Vor längerer Zeit hat mir ein anderer deutscher Muslim einmal eine Photokopie dieser Übersetzung – jedoch ohne Widerlegung – zukommen lassen, die ich im Laufe der Zeit digitalisiert und die gröbsten Fehler darin verbessert habe. Nun fehlt mir ein Latinist, mit dem ich bei der weiteren Bearbeitung und Hinzufügung von Anmerkungen zusamenarbeiten kann, sowie Unterstützung für die Herausgabe der Übersetzung. Ich habe vor, sie so zu bearbeiten, daß sie auch für Muslime akzeptabel ist. Tatsächlich gibt es im Internet Lateinkreise und -Foren, in denen auf Lateinisch über aktuelle Themen diskutiert wird, und da könnte vielleicht schon Interesse an einer solchen Übersetzung bestehen.

    Dann zeigte uns der Scheich noch ein kalligraphiertes Blatt unbekannter Herkunft mit dem folgenden Text:
    حيوة الأرض بالناس Das Leben der Erde ist durch die Menschen
    وحيوة الناس بالروح Und das Leben der Menschen ist durch die Seele
    وحيوة الروح بالعقل Und das Leben der Seele ist durch den Verstand
    وحيوة العقل بالعلم Und das Leben des Verstandes ist durch das Wissen
    وحيوة العلم بالأعمال Und das Leben des Wissens ist durch die Handlungen
    وحيوة الأعمال بالإخلاص Und das Leben der Handlungen ist durch die Aufrichtigkeit
    Diesem Blatt hatte er besondere Aufmerksamkeit geschenkt und es gut aufbewahrt.

    Leider mußten wir am selben Abend wieder nach Berlin zurück.

    1. Vielen Dank für diesen ausführlichen Kommentar. Haben Sie den Kommentar extra für meinen Beitrag verfasst, oder ist es Teil eines Textes der schon zuvor existierte?
      Die am Ende erwähnte Kalligraphie wurde übrigens auch uns gezeigt und erläutert. Ich werde in schaa Allah noch einen kleinen Blogbeitrag mit Bildern posten, die ich in der Tekke geschossen habe.

  2. As-Salamu alaykum wa rahmatullah wa barakatuhuh

    habe mir den ersten Teil des Artikels durchgelesen, bisher sehr interessant und vor allem schön geschrieben. Vielen Dank, dass Du diese Erfahrung mit uns (Deinen Lesern) teilst.

    Wa alaykumsalam wa rahmatullah wa barakatuhuh

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