„Der Bereich der Mechanei wird noch heute aus Gewohnheit „das Abendland“ genannt, obschon der Sinn dieses Wortes gerade am Geiste der Mechanei erlosch. Abendland ist seinem Begriffe nach als Gegensatz zum Morgenlande gedacht: oriens – occidens ist ein Begriffspaar, dessen Glieder nicht voneinander lösbar sind. Der Sichtpunkt, von dem aus sie gesetzt sind, ist Rom: erst das antike, dann aber das christliche Rom, das sich selbst als den Mittelpunkt der Christenheit sieht. Durch den Einbruch des Islams in den Mittelmeerbereich und die Aufspaltung der Mittelmeerwelt in Ost und West war Rom gezwungen, Anlehnung nach Norden, nämlich an das damalige Frankenreich zu gewinnen, eine Entwicklung, die zu einem Gemeinschaftsbewußtsein des „christlichen Abendlandes“ geführt hat, dessen Christlichkeit von diesem Begriffe nicht abzutrennen ist. Das Abendland setzt sich darin bewußt vom Morgenlande ab, dessen Inbegriff erst Byzanz und – seit der Kreuzzugspropaganda – mehr und mehr die Welt des Islams war.
In diesem Begriffe des christlichen Abendlandes war also die Christlichkeit sowohl der Kern wie die Klammer, mit der alles Volksbedingte, das der Begriff umschloß, zusammengehalten war. Abendland war seinem Sinne nach etwas Glaubensbedingtes. Doch diese Bedingtheit schwindet, wo der Glaube nicht mehr besteht. Er mußte sich mehrmals für tot erklären lassen: zunächst durch die Französische Revolution, aus der nicht durch Zufall gleichzeitig auch der Nationalismus hervorging und in den Völkern der Welt das Bewußtsein der nationalen Ehre und der gloire entfachte: Allons, enfants de la patrie, Le jour de gloire est arrivé. Das war die Todesstunde des Abendlandes; was blieb, ist – von den Erben aus gesehen – ein Museum. Kein Zweifel zwar, daß eine starke Christenheit noch besteht. Sie kann sich den Ruf zusprechen, den Platz des Glaubens zu halten, bis die Zeit des Unglaubens einmal abgelebt ist oder sich überschlägt; aber sie kann sich nicht mehr das Abendland nennen: die christliche Kulturgemeinschaft ist gesprengt durch den Geist der Mechanei, der an die Stelle Gottes die Zahl gesetzt, und durch den Nationalismus, der den Staat verweltlicht hat und ihn vergottet.
Erbe des Abendlandes ist „der Westen“ geworden, der nicht mehr an Gott, sondern an sich selber glaubt: an sich in der Rolle des Naturbeherrschers durch die Macht des Zahlendenkens. Damit fällt eine Schranke gegenüber der nichtchristlichen Welt. Zwischen Islam und Christentum, solange sie unbedingte Mächte waren, bestand keine Möglichkeit des geistigen Ausgleichs, denn beide bestanden darauf, die unbedingte Wahrheit zu besitzen, die nur eine sein könne, und von denen jeder die seinige für die eine hielt. Von dieser Wahrheit braucht nicht mehr geredet zu werden, wenn sie aufhört, wichtig zu sein und die Geschichte zu bewegen. Und dieser Zustand ist da. Glaubensdinge haben Propagandawert z. B. im Kriegsfall; im Ernste wird von ganz anderen Dingen gesprochen (oder genauer: von ganz anderen Dingern): solchen, mit denen man die Natur beherrscht. Sie sind „Realitäten“ der Wirtschaft; sie sind herstellbar, haben einen bestimmten Preis und sind verkäuflich. Hierüber kann man reden in einer Sprache, die international geregelt ist: der Sprache des Handels. Man braucht, so scheint es, den Käufer nicht zu kennen, dem man etwas verkauft; und umgekehrt: was braucht sich der Käufer um die Art und Welt des Verkäufers zu kümmern, von dem er etwas kauft! So schien es. Er will ja nur das Ding, das fertige, haben, mit dem man das und das tun kann.
So brach der entgötterte Geist der Mechanei in die Welt des Islams ein und brachte als seinen Gesellen den Nationalismus mit, den er selbst schon nicht mehr recht ernst nahm. Desto ernster nahm ihn nunmehr die islamische Welt, in die er nicht hineinpaßt. Der Prophet Muhammad hat mit seiner Flucht aus Mekka und dem Heimischwerden in einer anderen Gemeinschaft, die er selbst schuf – kurz: mit der Hidjra -‚ die Bande der Stammesverwandtschaft aufgegeben zugunsten der neuen Bindung an die Glaubensgemeinschaft, in der es nur Glaubensbrüder, nicht Stammesverwandte gibt. Vor Gott gibt es keine Stämme, keine Nationen, sondern nur Brüder im Islam. Der Islam ist seit seiner Entstehung eine politische Religion, die ihrem Entwürfe nach jede Nationalpolitik ausschließt.
Die Dar al-Islam, was wörtlich „Haus des Islams“ heißt, ist von Grund aus so gebaut, daß niemand als Gott darin der Hausherr sein kann. Ohne diesen ist das Haus nicht bewohnbar. Tritt an seine Stelle „das Volk“ oder „die Nation“, so kann es nicht ausbleiben, daß die tragenden Pfeiler und Balken, die alle den Sinn des Gottesstaates haben, in Kürze ausgehöhlt sind und das Haus darüber einstürzt. Gott ist alles und der Mensch nichts: das ist Islam. Wenn der Mensch sich nun als Naturbeherrscher aufbläht, über Gott die Achsel zuckt und die Nation vergottet, dann ist die Gesinnung, aus der Islam als gestaltende Macht entstand und durch die allein er zu bestehen vermag, nicht mehr da. Was zurückbleibt, sind „Leute“: ein belangloser Abklatsch der westlichen Mechanei. Sie mögen stolz darauf sein, nunmehr als Staatsvölker zu gelten, genau nach westlichem Vorbild; geschichtlich gesehen, sind sie dann endlich das, was Spengler „Fellachen“ nannte: menschliche Überbleibsel nach dem Ableben einer Hochkultur.“
(Prof. Dr. phil. Ludwig Ferdinand Clauß, Die Weltstunde des Islams, © 1963, Seite 94-96)