H. H. Frank über den Sufismus (1. Teil)

„Die Muhammedaner wissen nun selbst nicht wie, aber es entstand eine sonderbare Bewegung der Geister, wahrscheinlich schon vor und während der ersten Zeiten des Islams, eine Bewegung, die vielleicht das merkwürdigste Gebilde ist, was die Geschichte hervorgebracht hat, eine Erscheinung, die wir erst in ihrer rein äußerlichen Darstellung unbefangen prüfen wollen, ehe wir versuchen, uns klar zu machen, was ihr Wesen sei.

Der Orientreisende entdeckt bereits in Konstantinopel, in Aegypten, Syrien, Nordafrika eine seltsame Klasse von Menschen, Derwische genannt. Im großen Teil durchstreifen sie, in ihrem Äußeren verwahrlost, zerlumpt oder phantastisch gekleidet, das Land vom Balkan bis zum nördlichen China. Unsauberkeit, Unregelmäßigkeit der Lebenshaltung, Tabak und Opiumgenuß läßt viele dieser Leute geistesgestört, vertiert, als Narren erscheinen.

Besonders häufig sind diese Leute in Persien, wo sie „Sufi“ genannt werden, und in Indien, wo sie unter dem Namen Fakir allbekannt sind und eine Anzahl, Kunststücke, Wunder oder wie man es nennen will, vollbringen, und (die bekannten Büßer) durch unerhörte Selbstpeinigung in eine Art lethargischen Zustand verfallen.

Im eigentlichen Arabien sind diese Leute am wenigsten zu finden und in den ritterlichen, rauflustigen Sinn der freien Wüstensöhne und Drusen passen sie gar nicht hinein. Bei näherem Zuschauen gibt es deren, die sich wie die indischen Fakire ganz in ihr Inneres versenken und ganz auf sich beschränken, ohne Bedürfnis der Lehre und des Lernens.

Wo sie Nahrungsmittel nicht selbst finden und nehmen, sind sie lediglich auf die Gaben des Volkes angewiesen und können selbst wenn die Almosen reichlich genug ausfielen, sich in keinem europäischen Lande halten, da sie nicht einmal so viel Gewerbliches hervorbringen, wie die Zigeuner. Sie sind also auf ein Klima und eine Mitbevölkerung angewiesen, die nur im Orient zu finden sind.

Was sind das für Leute und was wollen sie? Wie verhalten sie sich, da sie auch Familienbande nicht kennen und Frauen nicht unter ihnen sind?

Wir erfahren zunächst, daß sie außer jenen einzelnen Wanderderwischen sich zu Sekten oder Gesellschaften zusammengetan haben, deren einige sogar Klöster, Schulen, Geldmittel besitzen, sich mit besonderen Abzeichen versehen, Obere verehren, von ihnen unterrichtet und in verschiedenen Lehrmeinungen vorwärts gebracht werden.

Bestimmte Ordensregeln und Andachtsübungen sind damit verbunden; und wenn sonst nichts, so wird der Europäer aus Büchern oder eigener Anschauung von den Klöstern der tanzenden und heulenden Derwische in Konstantinopel, in Kairo und allenfalls in Cupelias wissen, an der Stelle, wo sich der alte Fahrweg zwischen Beirut und Damaskus zur Beka, dem alten Cölesyrien herabsenkt.

In Teheran haben die Derwische sogar eine Art Centrale. Noch heute pflegt ein Deputierter (wie wir sagen würden) ein namenhaftes Geldgeschenk von den vornehmen Häusern und sogar auch den fremden Gesandtschaften einzusammeln und darüber Empfangsschein auszustellen. Dafür behelligt das ganze Jahr hindurch kein Derwisch das zahlende Haus. Wird aber die Gabe verweigert, so siedelt sich in leichtem Zelt ein Derwisch vor dem Thore, mit einem Kuhhorn an; Tag und Nacht läßt er sein Horn ertönen; Niemand wagt ihn fortzutreiben; und so zahlt man lieber.

Unter den Derwischorden gibt es solche, nach deren Statut sich eine Art Gewissensfreiheit oder Kasuistik ausgebildet, wonach sie, ohne Abzeichen zu tragen, sich in jegliche bürgerliche Stellung begeben und dort ihre Pflichten erfüllen, wie eben der gläubige Hauptmann im Evangelium auch.

Daß solche seltsame, ebenso alte als verbreitete Institution nicht nach ihren abschreckenden Äußerlichkeiten allein beurteilt werden kann, ist gewiß; es hat sich daher bei den Europäern und noch mehr bei den Orientalen eine ganz stattliche Literatur herausgebildet, die sich allein die Beantwortung der Frage angelegen sein läßt: Was sind das für seltsame Leute und was wollen sie?

Die Antworten nehmen als Material entweder das auf, was die Derwische im Leben selber bieten oder das, was die Literatur, ihre eigenen oder die fremden Skribenten (Schriftsteller) liefern, und daraus sehen wir mit Überraschung, daß die edelsten Geister und die besten Dichter von sich selbst sagten, daß sie zum Sufitum gehören.“

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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