Als Salafit zu Gast bei einem Sufi-Sheikh (Teil 3)

von Yahya ibn Rainer

Der Sohbet-Raum der Mevlevi-Tekke war ein sehr gemütlich eingerichtetes großes Zimmer, mit vielen orientalischen Sitzkissen, einigen europäischen Sitzmöbeln und reichhaltigem Wandschmuck. Die meisten Wandbilder zeigten arabische Kalligraphien und in der Sitzecke, wo der Sheikh mit Jamal saß, hangen und lehnten zahlreiche Zupfinstrumente.

„Wie Ihr seht,  beschäftigen Wir uns hier auch mit Verbotenem, der Musik.“ sagte Sheikh Abdullah Halis zu mir, als ich mich gerade in der europäischen Sitzecke niederließ. Ich hatte bei diesem Satz eine gewisse Häme in seiner Stimme erwartet, denn er meinte eindeutig mich und wollte mit dem Satz wohl zum Ausdruck bringen, dass er nun wüsste wer ich sei, und ein Salafist hält nun einmal strikt am muslimischen Muszierverbot fest.

Aber er sagte es scheinbar ganz ohne Nebengedanken und ohne besondere Mimik, er meinte es anscheinend ernst. Er verzichtete auch darauf sich eines der zahlreichen Instrumente zu nehmen und die illustre Runde zu beschallen. Es folgten weitere Anekdoten, ein paar Witze und die Übersetzung bzw. Erläuterung einiger Kalligraphien, von denen die eine oder andere wohl schon recht alt war.

Nun ließen sich auch die beiden sufischen Hausdamen des Öfteren blicken. Sie kamen rein, gingen durch oder fragten kurz etwas. Dabei fiel mir auf, dass sie nie das Zimmer vorwärts wieder verließen, sondern immer rückwärts, vorgebeugt und mit der rechten Hand auf dem Herzen. Ob diese Geste dem Sheikh galt, uns – den Gästen – oder Teil einer speziellen osmanischen oder sufischen Tradition waren, das fragte ich leider nicht, aber es wirkte ungewohnt, ebenfalls wie die Ansprache mit „Ihr“.

Das Essen war scheinbar fast fertig und man erkundigte sich, wie viele Gäste denn zum Speisen bleiben würden. Der Amerikaner war anscheinend sowieso schon eingerechnet, dazu noch eine syrische Flüchtlingsfamilie – ein Mann mit seiner Frau und 3 kleinen Kindern – die Unterkunft in einer Gästewohnung der Tekke gefunden hatten. Auch Jamal und ich hatten uns entschieden, entgegen unseren vorherigen Planungen, der freundlichen Einladung des Sheikhs zu folgen und ihm an seiner Tafel Gesellschaft zu leisten. Zuvor jedoch trat die Gebetszeit ein.

Der Sheikh stand kurz auf und rief eine seiner Hausdamen herbei. Ich befürchtete schon, dass wir nun einen Frauen-Adhan zu hören bekommen sollten, aber stattdessen ging sie wieder von dannen und einige Sekunden später hörte man ein leises Knistern und Knacksen. Hier, in der Mevlevi-Tekke, wurde der Adhan nicht selbst ausgerufen, sondern von einem Tonband abgespielt. Es sei eine schon recht alte Aufnahme aus Syrien, extra von einem Meister des Gebetsrufes für diese Tariqat in den 60er Jahren aufgenommen und abgeschlossen mit einer ganz besonderen Dua von einem ganz besonderen Sufi-Sheikh.

Nach der Beendigung des Gebetsrufes verließ uns der Sheikh kurz, um sich für das Gebet zu waschen und neu zu kleiden und beim Verlassen des Zimmers machte er es den Sufi-Schwestern gleich, indem er den Türrahmen rückwärts durchschritt, sich dabei in unsere Richtung vorbeugte und dabei seine rechte Hand aufs Herz legte.

„Du hast ihm von Pierre Vogel erzählt!“ sagte Jamal zugleich in meine Richtung, „Das hat er mir sofort erzählt. Jetzt weiß er Bescheid!“. Das sollte mir recht sein.

Als Sheikh Abdullah Halis wieder kam und wir gemeinsam die Musalla betraten, die ich zuvor bereits mit dem Amerikaner besichtigt hatte, da stach mir wieder die hintere rechte Ecke des Raumes ins Auge. Der Musikwissenschaftler konnte zwar recht gut deutsch sprechen, aber was dieses kastenförmige Gebilde – mit zwei Türen darin – zu bedeuten hatte und wieso wir bei der ersten Besichtigung der Musalla ruhig sein sollten, das konnte mir der junge Mann nicht so recht erläutern. Nun aber, als wir für das Gebet ein zweites Mal die Musalla betraten, kam mir aus der Richtung dieses Kastens, der etwa die Ausmaße einer winzigen Sauna hatte und komplett mit Holz verkleidet war, ein lautes und monotones Singsang entgegen.

Es saß anscheinend jemand in diesem Kasten und machte lautstark Dhikr. „Allah-Allah-Allah-Allah-Allah-Allah-Allah-…“ hörte ich über lange Zeit hinweg, auch während wir unsere Sunnah-Gebete verrichteten. Es irritierte ein wenig, aber zum Pflichtgebet – dachte ich – wird er wohl aus seinem Kasten raus kommen und mit uns beten.

Pustekuchen. Als wir mit den Sunnah-Gebeten fertig waren, wurde die Iqama gesprochen und wir reihten uns ein zum Dhuhr-Gebet, den Mann in der Box jedoch juckte das recht wenig. Während wir also das Gebet in der Gemeinschaft verrichteten, rief er mit Inbrunst weiterhin seine Litaneien aus. Manchmal glaubte ich mir bekannte Worte zu verstehen, aber meistens hörte ich nur einsilbige Laute (u.a. HuHuHu u.ä.)

Hinten links in der Musalla standen 2 grüne Särge, die waren mir erst nach dem Gebet aufgefallen, als ich nach der Beendigung der Gebetseinheiten ein wenig Distanz zwischen mich und die anderen brachte, da sie mir unbekannte Riten und Formeln an das Pflichtgebet anschlossen. Diese offensichtliche Nichtteilnahme wurde zwar wahrgenommen, aber anscheinend nicht als Affront aufgefasst. Die Särge irritierten mich jedoch und ich nahm mir vor Jamal darauf anzusprechen, ebenso wie auf den Mann in der Box.

Nun waren auch die anderen fertig und wir erhoben uns um gemeinsam in den Speisesaal zu gehen, der Mann aus der Box jedoch kam nicht mit.

Die Särge, so versicherte mir Jamal, waren leer. Sie dienten ausschließlich dazu, an die verstorbenen Großsheikhs der Tariqat zu erinnern. Und der Mann in der Box unterzog sich einer ganz speziellen Sufi-Therapie. Es gehört wohl zur Praxis dieser Tariqat, dass sich der Schüler des Sheikh für 18 Tage in diese Box zurückzieht. Während dieser Zeit fastet er und beschäftigt sich ausschließlich mit gottesdienstlichen Handlungen, von denen die meisten – wie z.B. dieses Dhikr – vorgegeben sind. Niemand darf in dieser Zeit zu ihm in die Box kommen, er darf die Box nicht verlassen und man darf auch nicht auf irgendeine Weise kommunizieren.

Am Essenstisch dann gab es zwei große Überraschungen, eine gute und eine böse. Die gute: Es gab traumhaft leckeres syrisches Essen. Die beiden Schwestern hatten anscheinend unter der Anleitung der syrischen Flüchtlingsfrau ein mehr als reichhaltiges Mahl gezaubert und uns dann zu Tische kredenzt. Die böse Überraschung: Frauen und Männer haben zusammen gespeist. Männer auf der einen Seite und die Frauen genau gegenüber auf der anderen Seite des Tisches. Das war ich schon lange nicht mehr gewohnt. Ich konnte praktisch nirgends hinschauen, außer auf meinen Teller oder nach ganz rechts oder links. Man unterhielt sich ungeniert, schaute und lächelte sich gegenseitig an und ich fühlte mich wirklich sehr unwohl.

Nun hatte ich, weil der Sheikh sowieso schon so ein großes Mitteilungsbedürfnis hatte, nur selten die Möglichkeit das Wort zu ergreifen, und dann setzte man noch zwei mir völlig fremde Frauen ähnlichen Alters mit an den Tisch, was mich letztendlich komplett zum Schweigen brachte.

Dafür kam Jamal zu Wort und er brachte Pierre Vogel wieder in Gespräch. Ob man ihn nicht einmal in die Tekke einladen wolle. Man könnte mit ihm diskutieren, ihn auf einige bestimmte Themen ansprechen. Der Sheikh war ob dieser Idee doch ein wenig aus der Fassung. „Wir haben mit der Person Pierre Vogel ein kleines Problem“, sagte der Sheikh nur kurz und knapp, führte den Gedanken aber nicht weiter aus. Auch die beiden Damen fanden die Idee anscheinend gut. Man könne ihn ja dieses oder jenes fragen oder ihm die Chance geben einiges richtig zu stellen. Doch diese Vorstellung war dem Hausherrn anscheinend nicht ganz geheuer. Das Thema wurde totgeschwiegen.

Als dann alle emsig ihr Tellerchen gelehrt hatten und nichts mehr nachlegen wollten, da kam es zur nächsten sonderbaren Praxis dieses Ordens, es gab eine Art Tischgebet. Alle Tischgäste – außer dem pösen Salafisten – ballten nun, gemeinsam mit dem Tischherrn, ihre beiden Fäuste und drückten die Vorderseiten selbiger mit der Handfläche nach unten zeigend gegen die Tischkante, senkten den Kopf und sprachen im Chor irgendetwas, was sich nach einer Dua und anschließendem HuHuHuHaHa (oder so ähnlich) anhörte. Nun musste ich ein wenig schmunzeln und auch die syrischen Gäste, die das Ritual anscheinend kannten, schauten nach dem Vollzug ein wenig verschmitzt zu Boden.

Solcherlei Besonderheiten kamen etwas häufiger vor und jedes Mal nahm ich an diesen Ritualen bewusst nicht teil. Vor allem, weil ich die Rituale gar nicht kenne, aber als Salafit natürlich auch, weil ich auf die Schnelle nicht beurteilen konnte, ob es sich bei den Handlungen ggf. um Neuerungen in der Religion handelte. Ich bin weiß Gott kein Pedant in dieserlei Hinsicht und ich schelte gewiss nicht jede Handlung sofort als Bi’da, nur weil ich sie nicht kenne. Doch Vorsicht ist geboten und wenn es einen Grund gibt um den Sufismus zu tadeln, dann ist es das teils häufige Auftreten von Neuerungen, die sich in den letzten Jahrhunderten speziell im Tasawwuf herausgebildet haben.

Ich bin aber ebenfalls der festen Ansicht, dass die negative Klassifizierung einer Handlung mitunter auch vorschnell geschieht, besonders wenn die Handlung von Sufis ausgeht und die Klassifizierung von einem zeitgenössischen Salafi getätigt wird. Sicherlich finden wir hier Übertreibung auf beiden Seiten, ebenso wie ich auf beiden Seiten im Grundsatz auch eine gute Absicht unterstelle.

Ich hatte, als ich meinen Besuch in der Mevlevi-Tekke plante, mir zwei Szenarien ausgemalt: Ein Worst-Case-Szenario, in dem mich der Sheikh mit Zeter und Mordio und im hohen Bogen von seinem Hofe werfen und mir noch Flüche gegen mich und meine Glaubensgenossen nachrufen  würde. Und ein Best-Case-Szenario, in dem mich der Sheikh tief beeindrucken und meine kritische Haltung gegenüber dem zeitgenössischen Sufismus korrigieren würde.

Beides ist nicht eingetreten. Der Sheikh war sicherlich freundlich, gebildet und lebenserfahren, aber er zeugte in meiner Gegenwart nicht von einer speziellen Güte, die ihn als Meister und Lehrer einer wie auch immer gearteten Askese oder charakterlichen Vorbildlichkeit ausgezeichnet hätte. Wäre mir sein Titel – als Sufi-Sheikh mit besonderen Lehrbefugnissen – im voraus nicht bekannt gewesen, hätte ich ihn als einen ganz normalen deutschen Muslimbruder erlebt, wie Jamal und viele andere Muslimkonvertiten der ersten Generation, die zwar häufig einen anderen Weg als wir beschritten – allein schon weil sie andere Umstände hatten – aber trotzdem unsere Brüder sind und von denen wir auch profitieren können, weil sie Lebenserfahrung haben und natürliche Weisheit besitzen.

Das der zeitgenössische Sufismus in einer Krise steckt, das musste sogar der Sheikh mir gegenüber zugeben. Er hat vor kurzem seine Tariqat auflösen müssen, zwar nicht endgültig, aber vorübergehend. Er hatte das Gefühl, dass viele heutzutage den Tasawwuf für „eine spirituelle Hängematte“ hielten. Ernsthaft das Ziel erreichen, nämlich die Erlangung von Ikhlas (Aufrichtigkeit) in den gottesdienstlichen Handlungen, wollen anscheinend nur die Wenigsten. Der Spaßfaktor, das Verkleiden, das Singen, das Tanzen, die Meditation, das wirkt bei den Meisten eher als Ablenkung vom Alltagsstress oder von anderen psychischen Problemen. Aber hart arbeiten möchte längst keiner mehr, in diesem Jihaad an-Nafs, der der schwerste aller Kämpfe sein soll.

Ich würde den Sheikh wieder besuchen. Allein die Tatsache, dass er mir meine distanzierte Art nicht übel nahm und mich als Gast unvoreingenommen und freundlich behandelte, rechne ich ihm hoch an. Obwohl er wusste, dass ich ein „Salafist“ bin, hat er mich weder getadelt noch zurecht gewiesen. Sein Gerede vom „Krebsgeschwür“ des Salafismus – in einem Interview mit der Ortspresse – fand im Umgang mit mir keinen Nachhall.

Ich entschuldige mich an dieser Stelle dafür, dass ich nicht mehr Lob für ihn habe aufbringen können und hoffe ihn mit meinem Text nicht allzu sehr verletzt zu haben.

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

2 Gedanken zu „Als Salafit zu Gast bei einem Sufi-Sheikh (Teil 3)

  1. „Männer auf der einen Seite und die Frauen genau gegenüber auf der anderen Seite des Tisches. Das war ich schon lange nicht mehr gewohnt“

    An dieser Stelle würde mich interessieren, ob Du das heute noch genau so kritisch sehen würdest. Für mich sind solche Situationen nämlich auch nach mittlerweile 15 Jahren des Muslimseins immer noch völlig normal. Ehrlich gesagt fühle ich mich umgekehrt genau dann unwohl, wenn die Geschlechtertrennung zu streng praktiziert wird, etwa wenn Frauen sich konsequent in einem anderen Raum aufhalten als die Männer.

    1. Ja, auch heute ist mir Geschlechtertrennung weitaus lieber als deren Vermischung. Aber ich wäge natürlich ab. Oftmals kann man es halt nicht vermeiden. Und ich beanspruche auch nicht, mit meiner Einstellung die religiöse Wahrheit zu repräsentieren. Jede/r wie es ihm/ihr genehm ist.

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