Buchauszug: Herman Heinrich Frank – Was der Christ in den Orient bringt (1901)

„So ist die Einfachheit und Anspruchslosigkeit der arabischen oder persischen Cafeschänken durchaus nicht der Mangel einer fehlenden Kultur und beklagenswerten langweiligen Armseligkeit des Lebens, sondern sie würde würdiger verglichen mit der Einfachheit des griechischen Theaters, wo ohne alle Meiningerei die Verse eines Sophokles, Euripides, Äschylos vorgeführt wurden. Und diese arabisch-syrisch-palästinischen Lande, — es sind die Stätten, wo die herrschenden Religionen Europas geboren wurden, jenes Evangelium der Armen und Bettler das Licht der Welt erblickte, — es sind die Orte, wo man es ernst meint mit dieser Einfachheit des Lebens; es sind die Wohnstätten uralter Kultur und Weisheit, wohin schon in vorgeschichtlichen Zeiten die alten Griechen wallfahrteten, hin zur mystischen, wahrlich im tiefen Innern verborgenen Weisheit des Orients! Und dorthin will nun der Christ mit dem Musterkasten wallfahren, Absatzgebiete für seine Fabrikware schaffen, Bedürfnisse importieren, aufdrängen, welche die Moslims nicht haben und gar nicht haben wollen. Mit seiner Kultur und seinen sozialen Fragen will er jene Gegenden beschenken und, — wenn die Geduld reißt, wenn der Fanatismus erwacht, — den Leuten die Pistole auf die Brust und die Mündung der Kanonen auf ihre Gebäude richten.

In Europa hat sich die Zahl der Bedürfnisse stets vermehrt, dagegen die Kaufkraft des Geldes stets verringert. Da nun der ganze Umfang der Bedürfnisse durch Herkommen bereits in gewisse Grenzen gewiesen ist, so muß man, um den unnötigen Luxus erzwungener Weise mitkaufen zu können, die eignen Arbeitsleistungen höher schrauben.

Kommt hierzu der taktmäßige Gang der Maschine, die nie stehen darf, und die Krampfhaftigkeit schneller Kommunikation, so entsteht hieraus eine Verkürzung der freien Zeit und des individuellen ästhetischen Lebens.

Der Mensch ist, anstatt die Natur sich zu unterwerfen, selbst in den Dienst der Maschine, in ihre Räder geraten. Die Kultur hat sich derartig gesteigert, daß in Europa für den Einzelnen eine Ausschließung von derselben nicht möglich ist. Der Mensch ist dadurch in einen harten Kampf geraten und braucht seine gesamte Kraft, um sich überhaupt zu halten, zu behaupten. Die soziale Frage liegt nun darin, daß diese Kraftleistung einesteils nur in den Dienst der wirtschaftlichen und kaufmännischen Interessen gestellt ist, und daß andererseits eine geistige Verkümmerung durch dieses gänzliche Aufgebrauchtwerden doch empfunden wird.

Hierbei hat sich herausgestellt, daß ein Entfliehen aus dem Tretrade nicht möglich ist, d.h. das Leben ist materiell geworden, das Leben ist teurer geworden, es rentiert sich geistig und seelisch nicht mehr. Die Arbeitsteilung gestattet uns gar nicht mehr, billig zu leben, und mit Wenigem, das aber der Ertrag der eigenen Arbeit ist, zufrieden zu sein.

Alles Maschinenwesen ist eine unhumane Selbstschändung, ein Verbrechen am Geiste, es gibt statt Adel der Arbeit, — geistlose Handgriffe, — ein ganzes Menschenleben hindurch! Die ganze europäische Kultur ist ein Fluch für Alle, alle demoralisierend, alle entmenschend. Hoch und Niedrig, der Verlauf des Lebens hat somit eine kaufmännische Uniformierung erhalten. Wie versumpft, wie von allem Christentum man abgewichen ist, zeigt die Tatsache, daß man allgemein bei Hoch und Niedrig die Höhe des Reichtums und Vermögens als Maßstab des Behagens und Glückes annimmt. In der ganzen großen Frage des Klassenkampfes hört man absolut nichts anderes, als die Abwägung der Mittel für die materielle Aufbesserung, als wenn der materielle Aufschwung das Behagen, das höhere Glück brächte.

Aus der Arbeitsteilung ist eine Arbeitsvermehrung geworden, die keine Zeit mehr für die idealen und ästhetischen Seiten des Lebens übrig läßt. Für den gebildeten Mittelstand steht die Zeit schon vor der Tür, wo er von seiner ästhetischen Höhe herunter steigen muß in die kaufmännisch-organisierten Betriebe der Neuzeit. Dort wird es sich bald zeigen, ob seine kaufmännische Begabung ihn zum Proletarier herunter oder zum Millionär hinauf befördern wird. Der gebildete Mittelstand ist nicht mehr existenzfähig: voll Verachtung betrachtet ihn der Geldmensch und Protz als armer Teufel von oben, voll Haß und Mißtrauen betrachtet ihn der soziale Genosse als Bourgeois von unten.

Der Mittelstand hat genossen, solange er genießen konnte. Der wirtschaftliche Umschwung der neuen Zeit hat den Boden weit unterhöhlt und unterwaschen! Rettungslos kracht eine Scholle nach der anderen in die Tiefe! Der Kulturerwerb und der augenscheinliche Aufschwung unseres wirtschaftlichen und kaufmännischen Lebens im Anschluß an den politischen Fortschritt drückt gleichzeitig auf unser gesamtes sittliches, ästhetisches, ethisches und religiöses Leben. Ein Weiterblühen, ein Weitergedeihen unserer äußeren Gesamtlebensgüter scheint das Übel nicht zu heilen, sondern noch zu beschleunigen.

Aber den sinkenden Klassen geziemt nicht stumpfer Pessimismus, noch zerstörungssüchtiger Nihilismus. Da das Schiff im Untergehen ist, so sehe man sich nach der Küste und den Booten um, anstatt, wie ein Neuerer es will, mit Fußtritten den Stürzenden nachzuhelfen und im Bewußtsein eigenen Kraftgefühls die Schwächern von den Booten fortzustoßen.

Wie der Einzelne bei gezwungenen Kräftleistungen gegen Ermüdung und Lebensstumpfheit zu Reizmitteln greift, so tut es die ganze Europäerwelt. Die Menge des Alkoholkonsums ergibt erschreckende Zahlen. Bloße äußere Einschränkungen und die Tätigkeit der Mäßigkeitsvereine erreichen nicht die Wurzel des Übels. Die ganze Gesellschaft ist ermattet, degeneriert sich durch Reizmittel, und der allgemeine Ausdruck dieser Sachlage ist eine Unzufriedenheit mit dem Leben, genannt soziale Frage.

Ein jeder sieht sich gezwungen, an der Kultur teilzunehmen; niemand kann sich ihr entziehen. Es zeigt sich eine Entwertung aller Robinsonarbeit im Hause, die Verlegung des Lebens in die Wirtshäuser. Damit geht Hand in Hand das Gefühl der Unruhe und Abspannung, welches das Leben als eine Last erscheinen läßt. Das Leben ist teurer geworden, als es wert ist. Einen eigenen Hausstand zu gründen, die einfachste Vorbedingung von Gesundheit und Sittlichkeit, ist in der Großstadt ein gewagtes Unternehmen geworden. Unsere Verfeinerung des Außenlebens bedeutet zugleich eine unglaubliche Verrohung des Gemütslebens. Dieses zeigt sich natürlich nicht in dem Sinne, daß der gute Ton abnähme; im Gegenteil! — sondern in dem Sinne, daß sich die Menschen, auch die zwanglos verkehrenden Sports- und Klubbrüder, eigentlich Vertrautes garnicht zu erzählen haben. Es wäre naiv, Gemütsbedürfnisse zu haben, es ist alles konventionell. Der Restaurant- und Wiener-Cafe-Ton klingt durch alle Unterhaltungen, und der Aufenthalt in den immer prunkvoller werdenden Räumen des Restaurants. erzeugt eine bedauerliche Überschätzung des äußern Menschen. Die Hauptzeit ist ohnedies den Geschäftsräumen gewidmet.

Für die Ästhetik sorgt wieder die Öffentlichkeit, durch Messen, Theater, Konzert, Kunstausstellungen, Vorträge u.s.w. Militärische und politische Bürgerpflichten nehmen auch einen breiten Raum ein. Das Familienleben flüchtet sich zu den Geldheiraten. Die Kinder werden immer klüger, immer älter, immer moderner. Die höchste Creme ist die rauschende Saison mit ihren guten Diners, Soupers, Soirees, The dansants etc. Für die ganz intimen Bedürfnisse sorgt eine Venuspriesterin, und im Hochsommer müssen die immer „bequemer reisenden Reisenden“ die zerrütteten Nerven in einem Bade wieder notdürftig zusammenflicken. Die europäische Gesellschaft geht dem Zeitpunkt entgegen, sich in ein Warenhaus oder eine Krambude zu verwandeln, wo große kaufmännische Gruppen die Staaten, denen sie angehören, selbst in kriegerische Unternehmungen stürzen, und der Wert der Einzelnen sich in eine Geldskala des Erworbenen umsetzt.

Denn in einer kaufmännisch-organisierten Gesellschaft ist der Reichste der Tüchtigste und Intelligenteste. Ferner hat dieser Fortschritt zur kommerziellen und industriellen Überlegenheit der Völker Europas, die Nötigung der Aufsuchung von fremden Absatzgebieten geschaffen.

In anderer Weise, aber nicht minder materiell als der Verkehr dieser zu Kaufleuten gewordenen Völker untereinander, vollzieht sich der Verkehr mit den Kunden. Ähnlich wie die Firma ihre commis voyageurs ins Land entsendet, die ihren Konkurrenten den Rang ablaufen und andere Firmen vom Platz zu vertreiben haben, gestaltet sich der Verkehr der Kulturvölker bei ihren rivalisierenden Kolonialunternehmungen. Die erdrückende Menge, die Reichhaltigkeit und die Verfeinerung der Kulturgüter, welche die Staaten Europas nicht erschwingen vermögen, erdrücken jedes andere als kaufmännische Empfinden über die Berechtigung der Aufdrängung solcher Danaergeschenke. Und haben sich andere Völker an diese Genüsse und Bedürfnisse gewöhnt, so müssen ihnen dieselben aufgezwungen werden.“

(Herman Heinrich Frank, Das Abendland und das Morgenland: Eine Zwischenreichbetrachtung…, Verlag: H.S. Nachfolger, ©1901)

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

2 Gedanken zu „Buchauszug: Herman Heinrich Frank – Was der Christ in den Orient bringt (1901)

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