Buchauszug: Ghazanfar & Islahi – Al-Ghazali über freiwilligen Tausch, die Entwicklung der Märkte und Profit

Der folgende Text stammt aus der Publikation Economic Thought of Al-Ghazali (Ökonomische Lehre des Al-Ghazali) von den Professoren Dr. S. Mohammad Ghazanfar und Dr. Abdul Azim Islahi und wurde von mir (Yahya bin Rainer) aus dem Englischen ins Deutsche übertragen.

Diese Textpassage ist nicht nur interessant für Muslime, sondern ggf. auch für Nichtmuslime, die sich mit der Geschichte der Handelstheorie auseinandersetzen. Der islamische Gelehrte Abu Hamid Muhammad ibn Muhammad al-Ghazali – Allah sei ihm gnädig -, um den es hier geht, lebte im 11. Jahrhundert christlicher Zeitrechnung.

Freiwilliger Tausch und die Entwicklung der Märkte

Al-Ghazali bietet eine recht detaillierte und überzeugende Abhandlung über die Rolle und Signifikanz freiwilliger Handelsaktivitäten und die Entstehung von Märkten, nachdenkend über die Kräfte von Angebot und Nachfrage sowie die Bestimmung von Preisen und Profiten.

Ferner zeichnet er wortgewandt die Entstehung von Handelsstädten und -zentren nach, als eine Ordnung zur Befriedigung der gegenseitigen Interessen seiner Teilnehmer – und eindeutig die Grundlage bildend für die später formulierte internationale Handelstheorie [etwa 700 Jahre später].

Laut al-Ghazali entstehen Märkte aufgrund natürlicher Kräfte, als Teil der „Natürlichen Ordnung“ der Dinge und als ein Ausdruck des selbstmotivierten menschlichen Wunsches nach freiwilliger Befriedigung gegenseitiger ökonomischer Bedürfnisse. Damit der Leser ein korrektes Verständnis von der Tiefe und dem Umfang von al-Ghazalis Analyse bekommt, empfiehlt es sich ihn in einigen Details zu zitieren:  (1)

„Es kann passieren, dass Landwirte an einem Ort leben, wo keine landwirtschaftlichen Geräte erhältlich sind. Und Schmiede sowie Zimmerleute dort leben, wo keine Landwirtschaft existiert. Also benötigt der Landwirt Schmiede und Zimmerleute, und die wiederum brauchen die Landwirte.

Natürlich möchte jeder von ihnen seine eigenen Bedürfnisse befriedigen, indem er im Austausch etwas von dem gibt, was er (selbst) besitzt. Es kann aber auch vorkommen, dass, wenn der Zimmermann Lebensmittel für einige Werkzeuge haben möchte, der Landwirt diese Werkzeuge gar nicht benötigt. Oder, wenn der Landwirt die Werkzeuge vom Zimmermann braucht, der Zimmermann jedoch nicht die Lebensmittel gebrauchen kann.

Oh ja, Situationen solcherart bereiten wirklich Probleme. Deshalb entstehen Kräfte die zur Bildung von Handelsplätzen führen, wo alle Arten von Werkzeugen für den Tausch bereitliegen und wo Lagerhallen errichtet werden um die Produkte der Landwirte zu speichern.

Dann kommen Kunden um diese Güter zu erwerben und die Märkte und Lagerhäuser gedeihen. Landwirte bringen ihre Produkte zu den Märkten und wenn sie nicht alles davon ohne Weiteres verkaufen oder tauschen können, dann verkaufen sie es zu einer niedrigeren Rate an die Händler, die wiederum speichern die Produkte und versuchen, sie (später) mit Profit wieder an Käufer zu verkaufen. Dies ist die Wirklichkeit für alle Arten von Waren und Dienstleistungen.“

Dann denkt al-Ghazali über ortsübergreifenden und grenzüberschreitenden Handel nach: (2)

„Diese Praktiken dehnen sich dann auf unterschiedliche Städte und Länder aus. Die Leute reisen zu verschiedenen Dörfern und Städten, um dort Werkzeuge und Nahrungsmittel zu beschaffen und um diese zu transportieren.

Die ökonomischen Angelegenheiten der Leute organisieren sich also zwischen Städten, die möglicherweise nicht alle notwendigen Werkzeuge haben, und Dörfern, die vielleicht nicht alle benötigten Lebensmittel haben.

Die eigenen Bedürfnisse und Interessen der Leute schaffen also den Bedarf füreinander und für den Transport (der Waren). Damit entsteht eine Klasse von professionellen Händlern, die Ware von einem Ort zum anderen befördern.

Das Motiv hinter all diesen Aktivitäten ist die Akkumulation (Anhäufung) von Profiten, daran gibt es keinen Zweifel. Diese Händler erschöpfen sich durch Reisen [und andere Anstrengungen], um die Bedürfnisse anderer zu befriedigen und weil sie Profite machen wollen, und diese Profite werden dann auch noch von anderen aufgefressen – wie Räuber und tyrannische Herrscher.

(Was die Herrscher angeht) so scheint dies aufgrund ihrer Unwissenheit und Dummheit zu passieren, denn mit diesen (Handels-)Aktivitäten hat Allah ein System zur Verfügung gestellt, das für das Wohlergehen der Leute sorgt und unter ihnen Gemeinschaften formiert.

Ehrlich gesagt, im Grunde basieren alle weltlichen Angelegenheiten auf der Unwissenheit und Niedertracht einiger weniger Menschen. Wenn die Menschen weise wären und höhere und noblere Absichten hätten, dann würden sie das irdische Leben ablegen. Jedoch, wenn sie (alle) dies tun, dann würden die Mittel zum Lebensunterhalt vergehen und die Menschen würden zugrunde gehen, samt den Frommen unter ihnen.“

So also beleuchtet al-Ghazali, hinsichtlich des Verlaufs ökonomischer Aktivitäten, die Notwendigkeit von Arbeitsteilung und Spezialisierung, beide Faktoren einbeziehend, den örtlichen sowie menschlichen. Weiter zeigt er auf, dass Handelsaktivitäten einen Mehrwert für die Waren erzeugen, die dadurch am entsprechenden Ort und zur gegebenen Zeit für die Käufer verfügbar sind. Die natürlichen Kräfte des Tauschens führen ebenso zur Entstehung von professionellen Händlern, die durch das Profitstreben geleitet werden.

Obwohl die Akkumulation (Anhäufung) von Wohlstand an sich nicht zu den edelsten Tätigkeiten der herrschenden Ordnung der Dinge gehört, erkennt al-Ghazali es als ein notwendiges Phänomen an – eines, das essentiell ist für die reibungslose Funktion einer fortschrittlichen Gesellschaft und im Interesse der Menschen im Allgemeinen.

Überdies erwähnt al-Ghazali, während er die Handelsaktivitäten näher erörtert, das Bedürfnis nach Sicherheit und Schutz für die Handelswege und er schlägt vor, dass die Herrscher einen solchen Schutz bieten müssten, so dass die Märkte auch gedeihen können.

Man kann aus al-Ghazalis Schriften erkennen, dass er die Wechselwirkungen von Angebot und Nachfrage ebenso wie die Rolle von Profiten, als Teil der gottgewollten Ordnung des Allmächtigen versteht. Ferner stellt er recht gut definierte Verhaltensregeln auf, die unternehmerisches Verhalten leiten sollen.

 

Fußnoten:

(1) Ihya Ulum al Din, Vol. 3, p. 227.
Es sei angemerkt, dass diese aufschlussreiche Analyse von Märkten, durch al-Ghazali, vieles von dem vorausnimmt, was zahlreiche klassische Ökonomen Europas, hier sei speziell Adam Smith genannt, im 17.-19. Jahrhndert während ihren Diskursen sagten. Besonders interessant ist, dass das Landwirt-Zimmermann-Beispiel hier analog ist zur berühmten Metzger-Bäcker-Darstellung des Adam Smith. Als er das durch Eigeninteresse motivierte Verhalten erörterte, sagte Smith: „Es hat nichts mit dem Wohlwollen des Metzgers, Brauers oder Bäckers zutun, dass wir unser Abendessen erwarten können, sondern mit ihrer Rücksichtnahme auf ihre eigenen Interessen.“
(Wealth of Nations, Modern Library, New York, 1965, p. 14).

(2) Ihya Ulum al Din, Vol. 3, p. 227.

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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