Auszüge aus „Für die Türkei“ von Prof. Dr. Robert Rieder (1861–1913)

„Die Sauberkeit, die dem Körper des türkischen Kranken in der Regel anhaftet, ist für den Krankenhausarzt eine sehr willkommene Beigabe. Auf Grund meiner Erfahrung sage ich mit Überzeugung, dass der arme Türke im Durchschnitt sauberer ist, denn der Deutsche. Ich kann diese Sauberkeit nicht besser illustrieren — und die Schwestern haben mir die Richtigkeit dieser Beobachtung bestätigt, — als damit, dass viele unserer deutschen Kranken äusserlich ganz sauber und manierlich gekleidet sind, je tiefer man aber an das Entkleiden geht, um so mehr — laxiate ognie speranza.

Der Türke kommt in zerlumpten, schmutzigen (oft recht malerischen) Kleidern an, aber wenn auch noch so grob und ärmlich, — sauber ist die Leibwäsche und sauber der Körper. Es ist ja richtig, dass infolge der religiösen Vorschriften nicht alle Körperteile in gleich intensiver und häufiger Weise mit der Reinigung bedacht werden, aber infolge der türkischen Bäder und der dort geübten, ungemein energischen Abwaschungen, die vorzunehmen nach gewissen Vorkommnissen des Lebens die Religion unbedingt vorschreibt, kommt in praxi doch eine ausgezeichnete allgemeine Körperpflege heraus, während in Deutschland, und nicht nur auf dem Lande, immer noch ein ganzer Prozentsatz der Bevölkerung eine Badewanne oder ein Vollbad nur vom Hörensagen kennt. Denn was für alten Schmutz bei uns manche Leute am Körper mit sich herumtragen, davon habe ich während der Cholera -Epidemie im Hamburger Krankenhause 1892, besonders bei Frauen, einen sichtbaren Eindruck bekommen, wo es die ganz plötzliche Erkrankung mit sich brachte, dass die Erkrankten unmittelbar zu uns befördert wurden, ohne vorher noch „Toilette“ machen zu können. […]

Geradezu ideal — auch vom ärztlichen d.h. gesundheitlichem Standpunkte aus, — ist die Reinhaltung des Mundes, der Nase, der Ohren, kurzum des Gesichtes, der Füsse und der Hände. Ich vergesse dabei nicht, dass bei uns die Zahnbürsten noch für recht viele ein Luxusgegenstand ist, und dass regelmässige Vornahme der Mundpflege selbst in Krankenhäusern ein Desiderat ist, das oft genug ein Desiderat bleibt. […]

Vor allem aber sind es zwei Eigenschaften, die mir den einfachen türkischen Mann so ungemein sympathisch gemacht haben. […]

Erstens seine Ruhe, seine Gemessenheit, sein Ernst, ich möchte sagen, seine Würde und seine Dankbarkeit, alles Eigenschaften, die er selbst in den für ihn schmerzlichsten Augenblicken bewahrt. Nur ein ganz oberflächlicher Beobachter kann da von der vielbekannten „Indolenz“ reden, und solchen Beobachtern ist eben nicht zu helfen. […]

Zweitens sein tiefes, echtes, ich möchte sagen, naiv religiöses Empfinden, das ihm treu bleibt bis zu seiner Todesstunde. Da gibt es in dem Krankenhause kein unnützes Geschrei, kein Gezanke oder hämische Nachrede unter den Kranken oder über das Personal. Der ganze Dienst spielt sich in dieser Hinsicht in ruhigem, glattem Geleise ab. Auch fehlt vollkommen der Alkohol mit all seinem Neben- und Nacheinander, und selbst, wenn jemand einmal ein Verlangen oder einen Wunsch an den Arzt stellt, den dieser nicht erfüllen kann, genügt eine ruhige, sachliche Erklärung, und alles ist in Ordnung. […]

Die Dankbarkeit und die dankbare Hingabe, derer der arme Türke fähig ist, hat wohl kaum jemals ein Fremder so zu empfinden die Veranlassung und die Freude gehabt, als ich nach meinem Vorfall und während meiner Krankheit, und schon um deswillen müsste ich dies Volk lieben. […]

Ganz wunderbar aber ist die tiefe Hingabe und das felsenfeste, geradezu kindliche Vertrauen des armen Mannes zu seinem Padischah. Oft, sobald ich einem Kranken sagte : „jetzt bist Du geheilt“, kam sofort das Dankgebet zu Allah, in dem er um langes Leben, Heil und Segen für den Padischah flehte, und in dem er dem Padischah dankte, dass er mich, den Fremden habe hierherkommen lassen, damit ich seine Untertanen, seine „Kinder“ gesund mache. Das gibt zu denken — vielleicht gerade dem fremden Staatsmanne, denn hier spricht die Seele des Volkes. […]

Und nur mit Neid kann ich des innigen, religiösen Gefühles gedenken, von dem das arme türkische Volk in so hohem Grade erfüllt ist. Wenn abends Soldaten und Kranke im Freien auf dem Rasen niederknieten, um zu ihrem Schöpfer betend zu sprechen, während die Sonne die schöne Landschaft vergoldete, und tiefer Friede über der ganzen Natur lag, habe ich oft meinen Wagen draussen vor dem Tore warten lassen und bin still geräuschlos an den Betenden vorüber, zum Tore hinausgegangen, um ihre Andacht nicht zu stören. […]

Die ungezwungene, selbstverständliche Ausübung des Gebetes, die trotz aller öffentlichen Schaustellung so rein garnichts von Schaustellung an sich hat, war es, die mich immer wieder ergriff. Und dieses selbe aufrichtige, religiöse Empfinden begleitet Hoch und Niedrig, ohne Klassenunterschied, auf allen Lebenswegen. Ich habe am Totenbett gestanden im Palast und in der Hütte: ein ernstes, würdiges „gottergebenes“ Hinübergehen, ein ernster, würdiger Schmerz, der in stillem Gebet Umstehenden und eine würdige „sachliche“ Haltung des betenden Imam. […]

Ich habe uns — Ärzte und Schwestern — vom ersten Moment unsrer Tätigkeit ab auf den Standpunkt gestellt, dass wir die Religion des Muselman streng respektieren. Ich habe Alles getan, wo, wie und wann ich konnte, um die religiösen Gepflogenheiten uneingeschränkt ausüben zu lassen, um zu verhüten, dass jemand sagen könnte, in dem von Christen geleiteten, türkischen Hospital kommt die muselmansche Religion nicht voll und ganz zur Geltung, — nicht aus Politik, sondern aus aufrichtiger Überzeugung gegenüber der Religion des Muselmans, und weil mir nichts mehr zuwider ist, als Proselytenmacherei. […]

Wenn es Aufgabe der Religion ist, dem Menschen die Zufriedenheit und die Genügsamkeit zu geben, die nötig sind, um auch ein ärmliches, irdisches Dasein klagelos zu ertragen, und um ohne Groll das glänzende Los seines Nebenmenschen zu betrachten, — wenn es Aufgabe der Religion ist, die Klassen- und gesellschaftlichen Unterschiede auszugleichen, und die sich immer mehr auftürmenden, sozialen Fragen und die sozialen Miseren zu überwinden, mit einem Worte gesagt, jene Gemütsruhe allen Erscheinungen des Lebens gegenüber zu geben, jenen Frieden, welcher höher ist denn alle Vernunft, und jene unerschütterliche Zuversicht und Heiterkeit im Angesicht des Todes, so ist die muselmansche die beste von allen. Die Hand dessen soll verdorren, der es wagt, hier störend und zerstörend einzugreifen, und dieses arme, aber brave, in seiner Weise glückliche, weil noch zufriedene Volk, hineinzustossen in all die Wirrnisse, die Begehrlichkeit und die Hast unseres europäischen Daseins, haltlos, schutzlos und beraubt des köstlichen Gutes: seiner Religion.“

(Prof. Dr. Robert Rieder,1861-1913, Für die Türkei, Band 1)

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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