Betreff: Der multiethnische und multireligiöse Charakter der alten Imperien und das entstandene Leid durch deren Zerfall

Interessanter Radio Podcast:

Bayern 2 – radioWissen – Sendung vom 29.07.2019
Titel: Griechenland und Türkei – Bevölkerungsaustausch 1923
https://www.br.de/mediathek/podcast/radiowissen/griechenland-und-tuerkei-bevoelkerungsaustausch-1923/1673288

Kleiner Auszug:

»Im Osmanischen Reich, wie in vielen Imperien, lebten viele verschiedene Ethnien und Religionen unter einem Dach zusammen. Die Strukturen waren zwar autoritär, aber sie garantierten Zusammenhalt und versprachen einen gewissen Schutz.

Als die multiethnischen und multireligiösen Imperien zerfielen, wurden sie nicht durch multiethnische und multireligiöse Demokratien ersetzt, sondern durch Nationalstaaten, mit genau definierten Vorstellungen von Zugehörigkeit. Als Ideal galt eine kulturell, sprachlich und religiös einheitliche Bevölkerung.

Dieser Neufindungsprozess war oft gewaltsam und schmerzhaft, besonders für die Gruppen, die sich plötzlich auf der falschen Seite neu gezogener Grenzen wiederfanden. Oft wurden sie von anderen Mächten aufgrund ihrer Religion oder ihrer Sprache benutzt, um politische oder territoriale Ansprüche zu stellen. Mit dem Vorwand die Rechte dieser Minderheit wahren zu wollen, wurden Invasionen gerechtfertigt.

Russland beispielsweise hatte sich dem Osmanischen Reich gegenüber stets als christliche Schutzmacht aufgespielt und brachte dadurch die orthodoxen Griechen in die prekäre Lage, als Verräter zu gelten. Und auch die Offensive der Griechen 1923 in Kleinasien wurde gerechtfertigt mit dem Argument, dass dort ja Griechen wohnten.

Das Vermächtnis von Lausanne lebte weiter. Durch den Vertrag von 1923 wurde ein Präzedenzfall für andere Vertreibungen geschaffen, der zu beweisen schien, dass es praktisch und moralisch machbar war, quasi ingenieurstechnisch große Bevölkerungsgruppen zu verschieben und dieses Vorgehen als Erfolg zu reklamieren, als ein Mittel Frieden zu stiften. Oft war es in einer bestimmten politischen oder geopolitischen Situation, dass man Lausanne als Vorbild nahm. Häufig im Zusammenhang mit dem Auseinanderbrechen alter Imperien, wenn eine neue nationale Regierung ihre Macht festigen wollte oder wenn nach Kriegen eine neue Ordnung hergestellt werden sollte.

Kommunistische und faschistische Regime praktizierten in den folgenden Jahrzehnten die gewaltsame Entflechtung, ebenso wie Demokratien. Die Vertreibung der Deutschen nach dem 2. Weltkrieg wurde bewusst nach dem Modell von Lausanne gestaltet. Auch die Bevölkerungsverschiebung zwischen Indien und Pakistan, nach der Unabhängigkeit, fußt darauf.

Und noch etwas hatten all diese Bevölkerungsverschiebungen gemeinsam: Sie wurden immer über den Kopf der Menschen hinweg beschlossen die es betraf und die mit den Folgen leben mussten.«

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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