Buchauszug: Bertrand de Jouvenel – Wo ist die Freiheit?

„Wo ist die Freiheit?

Seit zwei Jahrhunderten ist die europäische Gesellschaft auf der Suche nach ihr: Gefunden hat sie lediglich eine staatliche Autorität, die größer, lästiger und drückender ist als jemals zuvor in unserer Zivilisation.

Auf die Frage nach dem Verbleib der Freiheit zeigt man uns die Stimmzettel in unserer Hand: Rechtlich sind wir an der gigantischen Maschine, die uns unterworfen hat, beteiligt; wir sind ein winziger Bruchteil des Souveräns und dürfen gelegentlich helfen, ihn in Bewegung zu setzen.

Dies sei, sagt man, unsere Freiheit. Wir verlieren sie, sobald ein individueller Wille sich der Maschine bemächtigt: in der Autokratie. Mit dem Recht, ihr als Teil der Masse periodisch einen Impuls zu geben, gewinnen wir sie zurück: in der Demokratie.

Das kann nur ein Irrtum oder eine Täuschung sein. Die Freiheit ist etwas anderes. Sie besteht darin, daß unser Wille keinem anderen menschlichen Willen unterworfen ist, daß er vielmehr allein unser Handeln bestimmt, sofern es nicht die unabdingbaren Grundlagen des gesellschaftlichen Lebens verletzt.

Freiheit ist nicht die mehr oder weniger illusorische Partizipation an der absoluten Souveränität des sozialen Ganzen über seine Teile, sondern die direkte, unmittelbare und konkrete Souveränität des Menschen über sich selbst, die es ihm erlaubt und ihn zwingt, sich selbst zu verwirklichen, die ihm die Herrschaft und damit auch die Verantwortung über sein Schicksal gibt, die ihm Rechenschaft abverlangt über seine Handlungen gegenüber den Mitmenschen, die gleiches Recht besitzen – hier liegt die Aufgabe der Rechtssprechung – und auch gegenüber seinem Gott, dessen Intentionen er bejahen oder verneinen kann.“

(Bertrand de Jouvenel, Über die Staatsgewalt – Die Naturgeschichte ihres Wachstums, Seite 377)

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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