Buchauszug: Bertrand de Jouvenel – Die Metaphysik der Staatsgewalt und das Einfallstor des Despotismus

Die beiden Auszüge, die gleich hier folgen, möchte ich nur ganz kurz versuchen einführend zu erklären. Bertrand de Jouvenel war ein anerkannter Gelehrter der politischen Philosophie und ein konservativer Liberaler. Im 1. Kapitel seines Werkes Über die Staatsgewalt, befasst er sich mit der Metaphysik der Staatsgewalt, also quasi mit der ersten und naturgemäßen Ursache derselben. Der Auszug ist eine finale Aussage des Kapitels.

Der zweite Auszug ist nicht nur eine, sondern die finale Aussage des 2. Kapitels (namens Souveränitätstheorien), denn es handelt sich um den letzten Abschnitt des selbigen. Dort befasst Jouvenel sich mit den beiden hauptsächlichen Souveränen unserer bisherigen staatshistorischen Geschichtsschreibung, nämlich der Gottes- und der Volkssouveränität. Bemerkenswert ist hierbei u.a. seine ‚Theorie‘ bzw. Ansicht, dass es sich beim Volk, wenn es als Souverän Anerkennung findet, ebenfalls um eine transzendentale Grundursache“ handelt, also quasi-göttlich ist. Das deckt sich natürlich mit der Meinung nicht weniger klassischer Liberaler (und übrigens auch der ‚Salafisten‘), dass es sich bei menschengemachter Gesetzgebung (Rechtspositivismus) um eine Anmaßung handelt, die der Anbetung des Staates als Gott gleichkommt. Um auf die finale Aussage des zweiten Absatzes zurück zu kommen: Jouvenel trifft eben am Ende dieses Kapitels ein wichtige Aussage über die Schwäche der Systeme, nämlich das sie – das eine mehr, das andere weniger –, durch das Bestreben der Regenten nach alleiniger Souveränität, sich in Despotien verwandeln.

Der 1. Auszug, Seite 34-35 (Hervorhebung durch Unterstrich von mir)

„Die Gesellschaften, und auch solche, die uns wenig entwickelt scheinen, haben eine viele tausend Jahre alte Vergangenheit, und Herrschaft, der sie einst unterworfen waren, ist nicht verschwunden, ohne den Nachfolgern ihren Nimbus vererbt, ohne im Bewußtsein der Gesellschaft Spuren hinterlassen zu haben, denen sich stets neue hinzugesellen. Die Aufeinanderfolge von Regierungen einer Gesellschaft kann als eine einzige, sich ständig anreichernde Regierung gesehen werden. Daher ist die Staatsgewalt auch weniger Gegenstand logischer als vielmehr historischer Erkenntnis. Wir können zweifellos die Systeme beiseite lassen, die ihre verschiedenen Eigenschaften auf eine einzige Ursache zurückzuführen trachten, die Grundlage aller von den Herrschenden ausgeübten Rechte und aller von ihnen geforderten Leistungen sein soll.

Dies Prinzip ist bald der göttliche Wille, dessen Verweser, bald der Gemeinwille, dessen Bevollmächtigte sie sind, oder es ist der Nationalgeist, den sie verkörpern, das Kollektivgewissen, dessen Dolmetsch, der soziale Finalismus, dessen Agens sie sind. Damit wir in irgendeiner dieser Wesenheiten das anerkennen, was die Herrschaft ausmacht, dürfte es keine Herrschaft geben, der diese ‚Kraft‘ fehlt. Nun ist es aber offenbar, daß es Herrschaft schon in Zeiten gegeben hat, in denen der Nationalgeist ein Ausdruck ohne Sinn war, in denen keine Gemeinwille sie trug. Das einzige System, das der fundamentalen Bedingung genügt, jede Herrschaft zu erklären, ist das des göttlichen Willens.“

 Der 2. Auszug, Seite 56-57 (Hervorhebung durch Unterstrich von mir)

„Souveränitätstheorien – von ihren Ergebnissen her betrachtet

Lassen wir jetzt die Theorien, deren Wesen wir zu erfassen suchten, für einen Augenblick vor uns Revue passieren. Sie alle wollen die Untertanen dadurch zum Gehorsam verpflichten, daß sie eine hinter der Gewalt stehende, mit dem absoluten Recht ausgestattete transzendentale Grundursache aufzeigen: Gott oder das Volk. Alle sind sie bestrebt, auch die Staatsgewalt dieser Grundursache unterzuordnen; so daß sie in zweifacher Weise disziplinär wirken: gegenüber dem Untertanen und gegenüber der Gewalt.

Soweit sie den Untertanen disziplinieren, stärken sie die tatsächliche Gewalt. Indem sie aber die Gewalt binden, gleichen sie diese Stärkung wieder aus, sofern es ihnen gelingt, die Subordination der Gewalt praktisch zu bewerkstelligen. Und darin liegt die Schwierigkeit.

Den praktischen Mitteln, die angewendet werden, um die Gewalt im Zaume zu halten, kommt umso mehr Bedeutung zu, je unbeschränkter das Souveränitätsrecht ist, dessen sie sich bemächtigen könnte, und je größer die Gefahr für die Gesellschaft, falls sie sich seiner bemächtigt.

Der Souverän aber ist unfähig, sich in toto [vollständig bzw. im Ganzen] zu offenbaren, um die Regierung an ihre Pflicht zu mahnen. Es bedarf eines Kontrollkörpers und dieser – an der Seite der Regierung oder über ihnen stehend – wird versuchen, sich der Souveränität zu bevollmächtigen, die beiden Rechtstitel, den des Regenten und den des Wächters, in sich zu vereinen und damit ein unbegrenztes Befehlsrecht zu erlangen.

Man mag gar nicht genug Sicherungen einzubauen, sondern wird die Macht zusammen mit ihrem Kontrollorgan durch Aufteilung der Befugnisse oder durch häufigen Wechsel der Berechtigten zerstückeln müssen und damit die Verwaltung der sozialen Interessen schwächen und die Gemeinschaft überhaupt verwirren. Schwäche und Unordnung aber führen unvermeidlich zu einer erneuten Vereinigung der Souveränitätsfragmente, und die Staatsgewalt sieht sich plötzlich mit despotischem Recht versehen.

Der Despotismus wird um so ausgeprägter sein, je umfassender das Souveränitätsrecht angelegt wurde, als man es gegen jeden Übergriff gefeit wähnte.

Wenn es für die Gemeinschaft ganz unvorstellbar ist, die Gesetze zu ändern, bleibt der Despot an sie gebunden. Glaubt sie, ein Teil dieser Gesetze entspreche Göttlichem Befehl und sei unumstößlich, so bleibt wenigstens dieser Bestehen.

Wir ahnen bereits, daß aus der Volkssouveränität ein weit rücksichtsloserer Despotismus hervorgehen kann, als aus der Göttlichen Souveränität. Denn wenn es einem Tyrannen, sei er Individuum oder Kollektiv, gelänge, die eine oder andere Souveränität zu usurpieren, den Willen Gottes in Gestalt eines unvergänglichen Gesetzes könnte er doch niemals in Anspruch nehmen, um seine Willkür durchzusetzen. Im Gegensatz dazu braucht der Gemeinwille nicht in einem Gesetz prädeterminiert zu sein, er vermag vielmehr, aus verschiedenen aufeinanderfolgenden und sich ändernden Gesetzen zu sprechen. Die usurpatorische Staatsgewalt hat in diesem Fall freie Hand, und Freiheit der Gewalt ist Willkür.

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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