Buchauszug: Bertrand de Jouvenel – Der Verfall der Rechtsidee

«Bei der Rede über eine so wichtige und schwierige Materie kann man nicht genug Sorgfalt darauf verwenden, jedes Mißverständnis auszuschließen.

Diskussionen über die Demokratie, Argumentationen für oder gegen sie sind wertlos, solange man nicht weiß, worüber der andere spricht. So viele Autoren, so viele Definitionen. Dieselbe Vokabel faßt oft widersprüchliche Bedeutungen. Auf der einen Seite sind es im wesentlichen die Bedeutungen „Freiheit“ und „Legalität“‚ auf der anderen Seite ist es die Bedeutung „absolute Volkssouveränität“.

Man ist sich selten darüber im klaren, daß sich im tatsächlichen Leben der Demokratien diese beiden Grundsätze bekämpfen; nachdem man glaubte, einem allmählichen Vordringen der Demokratie beizuwohnen, das mit dem Sieg der Volkssouveränität gemessen wurde, ist man erstaunt, schließlich im Despotismus zu enden, in einem Regime, aus dem Freiheit und Legalität verschwunden sind.

Diesem Prozeß versuchen wir nachzugehen. Rekapitulieren wir deshalb: Die politische Philosophie hat zunächst die Freiheit zum Zweck gemacht. Dem Individuum sollte das mit einem Leben in der Gesellschaft zu vereinbarende Optimum an Unabhängigkeit gegeben werden. Es sollte vor jeder Willkür geschützt, seine Rechte sollten wirksam garantiert sein.

Zu diesem Zweck wurde die Souveränität der Gesetze proklamiert. Diese Gesetze wurden – nach der Rousseauschen Formel – über den Menschen gesetzt. Und nichts anderes als diese Gesetze sollten über dem Menschen sein. Er hätte sich weder vor dem Mächtigeren noch vor einer durch ihre Zahl bedrohlichen Gruppe zu fürchten, denn zwischen dem Mächtigen und ihm, zwischen ihm und der Gruppe steht die unbestechliche Justiz, die nach festen Gesetzen richtet. Auch von den Regierenden hätte er nichts zu befürchten, denn ihrem natürlichen Expansionsdrang stehen die Gesetze entgegen, die für alle gleich sind. Der Bürger sah sich mit einer Würde, einer Unverletzlichkeit versehen, die ihm kein anderes System verschafft hatte. Der menschliche Wille war aus der Knechtschaft entlassen, nur dem Gesetz untertan, das als eine souveräne und heilsame Notwendigkeit begriffen wurde.

Dieses System vermochte sich nur so lange zu halten, als das Gesetz quasi-religiöse Achtung besaß. Heilig und unveränderlich, war es imstande, eine legalitäre und freiheitliche Gesellschaft zu regieren […]

Man begann stattdessen, die Gesetze als der Kritik und der Revision grundsätzlich unterworfene Regelungen zu betrachten. Und man übertrug die Aufgabe ihrer ständigen Erneuerung entweder einer Vertretungskörperschaft oder dem Volke selbst, machte auf jeden Fall das Gesetz zur Ansichtssache. Nicht als hätte man die Gesetze sofort für beliebig gehalten! Man glaubte noch an ihre Notwendigkeit, aber auch daran, daß sich das notwendige Gesetz dem Volk offenbare, wobei das Schweigen aller Leidenschaften und Interessen unterstellt wurde. Diese Auffassung, die eine Untersuchung wert ist, soll uns hier nicht aufhalten. Nicht die Voraussage, sondern das Ergebnis beschäftigt uns hier: die höchsten Gesetze des gesellschaftlichen Lebens sind Gegenstand des politischen Kampfs geworden.

Damit aber waren jene Einzelwillen, die man durch die Verkündung der Souveränität der Gesetze hatte ausschalten Wollen, erneut im Spiel und in die Lage versetzt, Gesetze zu machen oder aufzuheben. Anstatt nur die Wahl des Magistrats dem Parteienkampf auszuliefern, vermochte der Ausgang einer Wahl die das gesellschaftliche Leben bestimmenden Normen zu verändern. Die Rechtsunsicherheit ist in den Demokratien zunehmend gestiegen. Könige, Pairskammern oder Senate, die hätten verhindern können, daß sich die Tagesmeinung unmittelbar in Gesetzen niederschlägt, wurden überall beseitigt oder paralysiert. Das Gesetz hat aufgehört, das soziale Leben als eine höhere Notwendigkeit zu bestimmen: Es ist nur noch der Ausdruck der jeweils gegenwärtigen Stimmungen.

Veränderungen im Recht berühren die sozialen Beziehungen und die individuelle Existenz. Dies um so mehr, als die Kühnheit des Gesetzgebers wächst und die Gesetze ehrgeiziger werden, da er freier ist, sie zu machen. Durch eine Justiz, die zur Sklavin wechselnder Gesetze wird, kann der Bürger in seinem Recht nicht geschützt werden. Die mit neuen Gesetzen verbundenen Vor- und Nachteile lehren den Bürger von der Veränderung der Legislative entweder alles zu fürchten oder alles zu erhoffen. Da man die mit der exekutiven Gewalt vereinigte legislative Gewalt nur mit Hilfe einer gut organisierten Faktion erobern kann, werden die Kämpfe stärker und rücksichtsloser. Je größer die in der Staatsgewalt verkörperten Möglichkeiten und Gefahren sind, um so heftiger wird der Parteienkampf, um so unsicherer
der Besitz der Staatsgewalt. […]

Es spielt keine Rolle, ob das Gleichgewicht der Faktionen zur Nicht-Regierung führt oder ob die sich abwechselnden Siege der Faktionen eine Folge gegensätzlicher Exzesse hervorbringen, auf jeden Fall wächst die Unsicherheit so stark an, werden die für das gesellschaftliche Leben notwendigen Bedingungen so sehr gestört, daß die Völker, am Ende der Ohnmacht eines umstrittenen Imperiums oder der unheilvollen Oszillation eines immer drückenderen Imperiums überdrüssig, hoffen, das Gewicht dieser von Hand zu Hand gehenden Staatsgewalt zu stabilisieren; sie finden schließlich eine beschämende Erleichterung in der Ruhe des Despotismus.»

(Prof. Bertrand de Jouvenel, Über die Staatsgewalt – Die Naturgeschichte ihres Wachstums, Seite 333-336)

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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