„Die Unvornehmheit des typischen buchstabengläubigen Christen beruht auf seiner plebejischen Bangigkeit. Die Gegenprobe anzustellen fällt nicht schwer: die ursprünglichen Calvinisten haben sich im selben Sinn für auserwählt gehalten, wie die Muslime, und unter ihnen sind zweifelsohne die überlegensten Typen zu finden, welche die Christenheit hervorgebracht hat. Zwar waren sie nie so vornehm, wie die Muslime; sie waren eben deshalb auch intolerant.
Welcher Pastor war je so weitherzig wie Mohammed, von dem der Ausspruch überliefert ist: „Die Meinungsverschiedenheit in meiner Gemeinde ist ein Zeichen göttlicher Barmherzigkeit“? Allein sie standen doch hoch über den Lutheranern, die in ständiger Angst vor dem Ungewissen lebten, und kaum weniger hoch über den Katholiken, denen die Kirche ihr Verantwortungsgefühl nahm. — Ja, an überlegener Toleranz steht nicht allein der brahmanische und buddhistische, sondern gerade auch der islamische Orient über dem Okzident.“
(Hermann Graf Keyserling, Das Reisebuch eines Philosophen, 1919, Seite 178)