„Menschliche Vollkommenheit in seinem wahren psychologischen und moralischen Sinn muss notwendigerweise eine relative und rein individuelle Bedeutung haben. Sie umfasst nicht den Besitz aller erdenklichen guten Eigenschaften, auch nicht den schrittweisen Erwerb neuer äußerer Eigenschaften; sie meint lediglich die Entwicklung der bereits existierenden positiven Eigenschaften jedes Einzelnen, dergestalt, dass die ansonsten ruhenden Kräfte wachgerufen werden.
Dank der natürlichen Vielfalt des Lebens weichen die angeborenen Eigenschaften des Menschen in jedem Einzelfall ab. Es wäre absurd zu glauben, dass alle Menschen nach ein und derselben „Art“ der Vollkommenheit streben sollten oder auch nur könnten – genauso, wie es absurd wäre, anzunehmen, dass ein vollkommenes Rennpferd und ein perfektes großes Zugpferd exakt dieselben Eigenschaften besitzen. Beide mögen einzeln vollkommen sein, aber sie werden verschieden sein, weil ihre ursprünglichen Wesen verschieden sind.
Mit Menschen ist es ähnlich. Wenn Vollkommenheit in einer bestimmten „Art“ vereinheitlicht werden müsse – wie es das Christentum in der Art des asketischen Heiligen tut – müsse der Mensch seine Individualität aufgeben, ändern oder unterdrücken. Dies würde allerdings eindeutig das göttliche Gesetz der individuellen Vielfalt verletzen, das alles Leben auf der Erde durchdringt. Der Islam ist aber keine Religion der Unterdrückung. Er gibt dem Menschen in seiner persönlichen und sozialen Existenz einen großen Freiraum, damit die verschiedenen Eigenschaften, Temperamente und Neigungen der unterschiedlichen Individuen ihren eigenen Weg hin zu einer positiven Entwicklung finden können.
Daher kann der Mensch ein Asket sein oder er kann sich innerhalb des rechtmäßigen Rahmens auch voll und ganz seiner sinnlichen Möglichkeiten erfreuen; er kann ein Nomade sein, der durch die Wüste umherwandert, ohne Nahrung für den nächsten Tag; oder aber ein reicher Kaufmann inmitten seiner Waren. So lange er sich aufrichtig und bewusst den göttlichen Gesetzen unterwirft, ist er frei, sein persönliches Leben so zu entwerfen, wie seine Natur ihn lenkt. Seine Pflicht ist es: das Beste aus sich zu machen, das Leben, ein Geschenk seines Schöpfers, zu ehren und durch die eigene Entwicklung seine Mitmenschen in ihren geistigen, sozialen und materiellen Bemühungen zu helfen.
Aber die Form seines Lebens ist in keinem Fall durch einen Maßstab festgelegt. Er ist frei, zwischen all den grenzenlosen rechtmäßigen Möglichkeiten auszuwählen. Die Grundlage dieses islamischen „Liberalismus“ findet sich in dem Gedanken, dass die menschliche Natur im Wesentlichen gut ist. Ganz gegensätzlich der christlichen Gedanke, dass der Mensch sündevoll geboren ist; oder die Lehren des Hinduismus, in denen der Mensch ursprünglich gering und unrein ist und schmerzvoll durch eine lange Kette von Seelenwanderungen zum endgültigen Ziel der Vollkommenheit taumeln muss.Dagegen vertritt die islamische Lehre, dass der Mensch rein geboren und in dem oben beschriebenen Sinn potenziell vollkommen ist.“
(Leopold Weiss – Islam am Scheideweg, Edition Bukhara, Seite 33-34)