Der falsche gesellschaftliche Idealismus moderner „Islamisten“

von Yahya ibn Rainer

Moderne muslimische Idealisten haben ein falsches Bild von einer „islamischen“ Gesellschaft. Sie meinen, dass die Scharia ein Erziehungstool ist, das im bestmöglichen Fall dafür sorgen soll, dass die gesamte Gesellschaft aus vorbildlichen und frommen Muslimen besteht, Sünden so gut wie ausgemerzt werden und keine Armut mehr existiert.

Aber eine Gesellschaft, die nur aus vollkommen frommen, in jeglicher Hinsicht vorbildlichen und wohlhabenden Muslimen besteht, kann es nicht geben und die Scharia ist auch nicht als Erziehungstool gedacht um eine solche Gesellschaft zu formen. Vielmehr ist es sogar so, dass eine Gesellschaft zwingend auch aus schwachen und weniger tugendhaften Menschen bestehen muss, damit sie nicht zugrunde geht.

Allah subhanahu wa ta’ala hat unseren Seelen nicht ohne Grund Sittenlosigkeit UND Gottesfurcht eingegeben (91:8) und auch Seine Prüfungen (mit Reichtum oder Armut) müssen und werden weiterbestehen.

Die Scharia garantiert uns in diesem Milieu von Frömmigkeit und Sündigkeit sowie Armut und Reichtum lediglich Schutz und unsere unveräußerlichen Rechte.

Die Notwendigkeit der Existenz von weniger guten Tugenden in einer Gesellschaft hat Imam al-Ghazali ganz gut in seinem Ihya Ulum ad-Din herausgearbeitet. Prof. Dr. Abdul Azim Islahi schreibt in seiner Publikation Economic Thought of Al-Ghazali (Ökonomische Lehre des Al-Ghazali):

«Al-Ghazali bietet eine recht detaillierte und überzeugende Abhandlung über die Rolle und Signifikanz freiwilliger Handelsaktivitäten und die Entstehung von Märkten, nachdenkend über die Kräfte von Angebot und Nachfrage sowie die Bestimmung von Preisen und Profiten. Ferner zeichnet er wortgewandt die Entstehung von Handelsstädten und -zentren nach, als eine Ordnung zur Befriedigung der gegenseitigen Interessen seiner Teilnehmer – und eindeutig die Grundlage bildend für die später formulierte internationale Handelstheorie [etwa 700 Jahre später u.a. durch Adam Smith / Anm d. Übers.]

Daraufhin zitiert Prof. Dr. Islahi einen Teil aus al-Ghazalis Abhandlung zu diesem Thema, wobei al-Ghazali zum Ende des Zitats zu einer interessanten Einsicht kommt:

«Die eigenen Bedürfnisse und Interessen der Leute schaffen also den Bedarf füreinander und für den Transport (der Waren). Damit entsteht eine Klasse von professionellen Händlern, die Ware von einem Ort zum anderen befördern.

Das Motiv hinter all diesen Aktivitäten ist die Akkumulation (Anhäufung) von Profiten, daran gibt es keinen Zweifel. Diese Händler erschöpfen sich durch Reisen [und andere Anstrengungen], um die Bedürfnisse anderer zu befriedigen und weil sie Profite machen wollen, und diese Profite werden dann auch von anderen aufgefressen – wie Räuber und tyrannische Herrscher.

Dies scheint aufgrund ihrer Unwissenheit und Dummheit zu passieren, denn mit diesen (Handels-)Aktivitäten hat Allah ein System zur Verfügung gestellt, dass für das Wohlergehen der Leute sorgt und unter ihnen Gemeinschaften formiert.

Ehrlich gesagt, im Grunde basieren alle weltlichen Angelegenheiten auf der Unwissenheit und Niedertracht einiger weniger Menschen. Wenn die Menschen weise wären und höhere und noblere Absichten hätten, dann würden sie das irdische Leben ablegen. Jedoch, wenn sie (alle) dies tun, dann würden die Mittel zum Lebensunterhalt vergehen und die Menschen würden zugrunde gehen, samt den Frommen unter ihnen.»

Diese Einsicht und Erkenntnis ist wichtig für jeden Muslim, der sich anschickt über „islamische“ Gesellschaften zu fabulieren.  Jeder Versuch, die Tugenden der Menschen mit der (Angst vor den Hudud der) Scharia zu formen, muss in einer Tyrannei und Gewaltherrschaft enden, denn Allah wird es nicht zulassen, dass die Menschen zugrunde gehen, bevor Er es für Sie bestimmt hat.

Auch für Prof. Dr. Islahi war dieser Teil aus al-Ghazalis Ihya derart prägnant, dass er es in eigenen Worten noch einmal zusammenfassen musste:

«So also beleuchtet al-Ghazali, hinsichtlich des Verlaufs ökonomischer Aktivitäten, die Notwendigkeit von Arbeitsteilung und Spezialisierung, beide Faktoren einbeziehend, den örtlichen sowie menschlichen.

Weiter zeigt er auf, dass Handelsaktivitäten einen Mehrwert für die Waren erzeugen, die dadurch am entsprechenden Ort und zur gegebenen Zeit für die Käufer verfügbar sind. Die natürlichen Kräfte des Tauschens führen ebenso zur Entstehung von professionellen Händlern, die durch das Profitstreben geleitet werden.

Obwohl die Akkumulation (Anhäufung) von Wohlstand an sich nicht zu den edelsten Tätigkeiten der herrschenden Ordnung der Dinge gehört, erkennt al-Ghazali es als ein notwendiges Phänomen an – eines, dass essentiell ist für die reibungslose Funktion einer fortschrittlichen Gesellschaft und im Interesse der Menschen im Allgemeinen.»

So sehen wir, dass Allah uns in jeglicher Hinsicht verschieden erschaffen hat und diese Ungleichheit ein Segen ist, auch wenn der Unterschied Positives und Negatives hervorbringt.

Gleichheit ist kein Bestreben der Muslime, vielmehr waren es die Muschrikun, die dieses Ziel anstrebten. So wie Allah im Quran sagt (in ungefährer Bedeutung):

«Sie möchten gern, dass ihr ungläubig werdet, wie sie ungläubig sind, so dass ihr alle gleich seid.» 4:89

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

3 Gedanken zu „Der falsche gesellschaftliche Idealismus moderner „Islamisten“

  1. Ich kann also einfach frech sündigen und dies damit begründen, dass es Sünder bedarf, damit eine Gesellschaft existieren kann?

    Krass. Und diese Person wird dann auch nicht bestraft, egal wie viel Ehebrüche und Zinszahlungen er tätigt?

    Der Islam ruft also zum Guten auf, hofft aber, dass nicht jeder diesem Ruf folgt, weil sonst alles zusammenbricht?

    Und wieso bestrafen wir dann jene Missetäter, wenn ihr Tun eigentlich gut ist?

    Ich bin mir ziemlich sicher, dass Al Ghazali das anders gemeint hat;)

  2. Und deine Interpretation des Verses ganz am Ende ist merkwürdig.

    Ich bin mir sicher, dass es einfach nur heißen soll “auf das ihr alle gleichermaßen ungläubig seid“

    Wäre mir nämlich neu, dass die sklavenhaltenden, sich ihrer unterschiedlichen Ränge bewussten Muschrikun sich dafür eingesetzt hätten, dass alle gleich sein sollen in dem Sinne, dass alle dieselben Möglichkeite haben sollen.

    Du solltest vielleicht nicht quasi im Vorbeigehen Ayats auslegen …

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