Die 9. Frage des “Kritikers”

9. Gibt es im Koran einen Text, der mit der Bergpredigt Jesu‘ im Neuen Testament, also einem der späten, der endgültigen Texte der Bibel, verglichen werden könnte? Frage ich als Atheist.

Mein Versuch einer Antwort:

Was die Bibel – und im speziellen das Neue Testament – angeht, so müssen wir eine Tatsache dringend festhalten. Die 4 Bücher, die Matthäus, Markus, Lukas und Johannes genannt und als Evangelien bezeichnet werden, sind keine vom allmächtigen Gott herabgesandte und offenbarte Worte, sondern es sind überlieferte Worte der Lebensgeschichte Jesu. Die ersten 4 Verse des sogenannten Lukas-Evangeliums geben eindeutig Aufschluss über diese Tatsache:

Schon viele haben es unternommen, einen Bericht über all das abzufassen, was sich unter uns ereignet und erfüllt hat. Dabei hielten sie sich an die Überlieferung derer, die von Anfang an Augenzeugen und Diener des Wortes waren. Nun habe auch ich mich entschlossen, allem von Grund auf sorgfältig nachzugehen, um es für dich, hochverehrter Theophilus, der Reihe nach aufzuschreiben. So kannst du dich von der Zuverlässigkeit der Lehre überzeugen, in der du unterwiesen wurdest.

(Lukas, 1. Kapitel, Verse 1-4)

Da ich jetzt weiß, dass der „Kritiker“ kein Christ ist, muss ich gnädiger mit dieser seinen Unwissenheit bezüglich der christlichen Bibel umgehen.

Wir Muslime haben eine spezielle Wissenschaft, die sich ausschließlich damit beschäftigt die Authentizität von Überlieferungen zu überprüfen. Die Gelehrten machen das anhand der Überlieferungskette. Diese Kette muss direkt beim Gesandten Allahs -Allah segne ihn und schenke ihm Heil- beginnen und ohne jegliche Unterbrechung zu demjenigen überliefert werden, der sie schriftlich festhält. Jede Person in dieser Überlieferungskette muss die Überlieferung persönlich von der vorherigen Person gehört haben, muss namentlich bekannt sein und einen guten Ruf als vertrauenswürdiger Muslim haben.

Personen, von denen Lügen bekannt waren (auch wenn nur wenige) oder die durch Krankheit bzw Unachtsamkeit für ihre Vergesslichkeit bekannt waren, machten die Überlieferungskette schwach, was dazu führte, dass diese Überlieferung nicht Einfluss auf Urteile in der Glaubens- und Rechtslehre fanden. Gleiches galt auch für Überlieferungen, in denen es Lücken gab.

Das Neue Testament – und hier im speziellen die 4 sogenannten Evangelien – erfüllen nach islamischen Maßstäben nicht die Voraussetzungen für authentische und gute Überlieferungen. Trotz alledem werde ich natürlich auf die Frage eingehen und eine islamische Entsprechung der Bergpredigt Jesu präsentieren.

Für die Leser dieses Blogs werde ich im Anhang dieses Eintrags zwei Dokumente zum Herunterladen anbieten. Ich werde eine Version der sogenannten Bergpredigt Jesu -Allah schenke ihm Heil- bereitstellen, wie sie in der Bibel steht, und eine Version der Abschiedspredigt des Gesandten Allahs -Allah segne ihn und schenke ihm Heil-.

Im Gegensatz zur Bergpredigt Jesu, wurde die Abschiedspredigt vom Gesandten Allahs -Allah segne ihn und schenke ihm Heil- zum Ende seines Lebens und Wirkens gehalten. Die Bergpredigt jedoch bildet laut Matthäus-Evangelium den Beginn des öffentlichen Wirkens Jesu -Allah schenke ihm Heil-.

Ich bin zugegebenermaßen ein großer Bewunderer der Bergpredigt. Auch wenn ihre Authentizität für mich als Muslim nicht erwiesen ist, so hat sie doch viel Wahrheit inne und zeigt zudem auf, dass sich das heutige Christentum in einem großen Irrtum befindet. Ich glaube nicht, dass sich der „Kritiker“ die Bergpredigt jemals richtig zu Gemüte geführt hat. Für einen Muslim jedoch wird sich Vieles in dieser Bergpredigt sehr gewohnt anhören.

Sehr eindrucksvoll ist seine Bestätigung der Scharia, des göttlichen Gesetzes der Thora, also nach christlichem Verständnis des Gesetzes des Alten Testamentes. Hier ein Auszug aus der Bergpredigt (Einheitsübersetzung):

Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen. Amen, das sage ich euch: Bis Himmel und Erde vergehen, wird auch nicht der kleinste Buchstabe des Gesetzes vergehen, bevor nicht alles geschehen ist. Wer auch nur eines von den kleinsten Geboten aufhebt und die Menschen entsprechend lehrt, der wird im Himmelreich der Kleinste sein. Wer sie aber hält und halten lehrt, der wird groß sein im Himmelreich. Darum sage ich euch: Wenn eure Gerechtigkeit nicht weit größer ist als die der Schriftgelehrten und der Pharisäer, werdet ihr nicht in das Himmelreich kommen.

(Matthäus, Kapitel 5, Verse 17-20)

Wenn der „Kritiker“ nun aber eine Art Predigt im Quran erwartet hat, dann muss ich ihn enttäuschen. Der gesamte Quran enthält nicht ein einziges Wort eines Menschen. Das Neue Testament der heutigen Bibel besteht jedoch ausschließlich aus Überlieferungen, die von Menschen verfasst und zusammengetragen wurden. Sicherlich findet man vieles von dem, was Jesus -Allah schenke ihm Heil- in der Bergpredigt sagt auch im Quran und in der Sunnah, aber man kann auf keinen Fall den Quran in seiner Form und Sprache mit den gesammelten Büchern des Neuen Testamentes vergleichen.

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PDF: Abschiedspredigt (Mohamed saw – laut Ahadith)

PDF: Bergpredigt (Jesus saw – laut Bibel)

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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