Islam und Marktwirtschaft: Die weise Kapitalistin und der Kaufmann

Der folgende Beitrag erschien zuerst in der Jan./Feb.-Printausgabe (Nr.149) des Magazins eigentümlich frei. Ein recht herzlicher Dank geht an dieser Stelle raus an den Herausgeber und Chefredakteur dieses freien und mutigen Blattes.

Wenn Muslime Roland Baader lesen

Es war einmal, vor etwa 1.420 Jahren, da lebte eine sehr wohlhabende Witwe inmitten der arabischen Wüste, in einer kleinen Handelsstadt. Den Wohlstand verdankte sie ihrem ersten Ehemann, der, als er verstarb, ihr sein gesamtes Vermögen vererbte.

Trotz des Wohlstandes beschränkte sich diese Frau nicht darauf, ihren Lebensabend damit zu verbringen, von diesem Vermögen zu zehren, sie erlangte vielmehr einen unzweifelhaften Ruf als weise und kluge Geschäftsfrau. Es wird überliefert, dass sie im Laufe ihres weiteren Lebens ihr Vermögen mehrfach verdoppelte.

Die Art, wie sie ihre Geschäfte zu führen pflegte, war zur damaligen Zeit üblich und weit verbreitet. Es handelte sich um eine Handelskooperationsform namens „Mudaarabah“, bei der sich mindestens zwei Parteien vertraglich darüber einig wurden, durch den jeweiligen Einsatz von Kapital und Arbeit einen Profit zu erwirtschaften. Das Besondere an dieser vertraglichen Kooperationsform war, dass es mindestens einen Kapitalisten und mindestens einen Arbeiter gab. Von der einen Vertragspartei wurde also ausschließlich das Kapital investiert, und von der anderen wurde die Arbeit geleistet. Die Witwe war also eine Kapitalistin, die ihr Kapital in aussichtsreiche Unternehmungen investierte und daraus, ohne jegliche Leistung von Arbeitskraft, einen Profit erwirtschaftete.

Als sie 37 Jahre alt war, verstarb auch ihr zweiter Ehemann, und sie wurde abermals Witwe. Aufgrund ihres Rufes und Wohlstandes jedoch war sie recht schnell umworben von zahlreichen gutgestellten Mitgliedern der örtlichen Stammesgesellschaft und bekam manche Heiratsangebote. Diese schlug sie jedoch allesamt aus und bevorzugte ein Leben als alleinstehende Geschäftsfrau.

Dann kam der Zeitpunkt, als sie wieder einmal Kapital in eine Unternehmung investieren wollte. Die Marktlage stellte sich gerade als besonders günstig heraus und die Preise im weit nördlich gelegenen Shaam (heute Syrien) versprachen hohe Profite bei entsprechender Investitionshöhe. Was diese weise und kluge Geschäftsfrau also jetzt noch benötigte, war ein Kooperationspartner, der mit ihrem Kapital und durch geschicktes Handeln einen guten Gewinn zu akquirieren in der Lage war. Zwei Eigenschaften musste dieser zukünftige Vertragspartner für sie haben: Er musste einerseits ehrlich und vertrauenswürdig sein, denn immerhin würde sie ihm eine große Menge Kapital anvertrauen, und zum anderen musste er ein hervorragender Händler sein, denn allein durch gutes Handelsgeschick kann auch ein anständiger Profit erwirtschaftet werden.

Nach einigen Erkundigungen schien sie diesen Mann dann auch gefunden zu haben. Der noch recht junge 25-Jährige, der in der Handelsstadt bereits den Beinamen al-Amin (der Vertrauenswürdige) erlangt hatte, stand im Rufe, ein guter und geschickter Kaufmann zu sein. Sie ließ also nach ihm schicken und unterbreitete ihm ein Vertragsangebot. Der junge Kaufmann nahm das Angebot an und wurde alsbald mit Kapital, einer Karawane und einem Knecht ausgestattet. Er machte sich auf den Weg ins entfernte Shaam.

Um es ein wenig abzukürzen: Die Erwartungen der Kapitalistin wurden nicht enttäuscht. Ihr Vertragspartner wurde seinem Ruf gerecht, ging vertrauenswürdig mit ihrem Eigentum um und akquirierte einen stolzen Profit. Sie war letztendlich dermaßen von diesem jungen Mann angetan, dass sie ihm, über den vertraglich zugesicherten Anteil hinaus, noch den Knecht überließ, der ihn auf der Handelsreise begleitet hatte. Zudem machte sie ihm einen Heiratsantrag.

Der junge Kaufmann nahm beides an, den Knecht in seine Dienste und die ehemalige Vertragspartnerin zu seiner Frau. Der Name dieser Geschäftsfrau war Khadidscha bint Khuwaylid, und der junge, vertrauenswürdige und geschickte Handelspartner war kein geringerer als Muhammad ibn Abdullah, der 15 Jahre später, in einer Berghöhle namens Hira, den Engel Gabriel treffen und als (letzter) Prophet des Islams in die Geschichte eingehen sollte.

Diese erste Ehe des Propheten Mohammed war eine sehr besondere, denn obwohl er während seiner gesamten Lebenszeit insgesamt zwölf Frauen hatte, so war er mit Khadidscha bis zu ihrem Tode allein verheiratet. Zudem war sie die erste Person, die den Islam annahm und den Propheten unterstützte.

In einer authentischen Überlieferung berichtet der Prophet von den vier besten Frauen, die dereinst im Paradiesgarten wandeln werden. Diese sind Khadidscha, seine erste Frau, Fatima, ihre einzige gemeinsame Tochter, die Jungfrau Maria und Mutter von Jesus dem Messias, und Asija, die Frau des Pharao, die dem Propheten Moses das Leben rettete.

Der von uns Muslimen am meisten geehrte Mann war also ein geschickter Händler, und die von uns geehrteste Frau eine Kapitalistin. Wer hätte das gedacht?

Nun muss diese Episode aus dem Leben des Propheten ja nicht zwingend auf eine ökonomische Schule oder Sichtweise im Islam hinweisen, sie könnte einfach nur dies sein und bleiben, nämlich eine kleine Episode ohne weitere Bedeutung.

Betrachtet man in dieser Hinsicht die Reaktionen von zeitgenössischen Muslimen, auch hierzulande, dann könnte man diesem Eindruck erliegen, denn die Worte „Kapitalist“ oder „Kapitalismus“ führen unweigerlich zu Bekundungen der Ablehnung. Grundsätzlich scheint der Einfluss marxistischer Thesen und Begrifflichkeiten, wie er leider Eingang in das gesellschaftliche Denken des Abendlandes gefunden hat, auch auf Muslime und ihr ökonomisches Verständnis eine große Wirkung zu haben.

Begünstigt wird das Gedeihen der Ablehnung von Reichtum, Eigentum und Profitstreben unter einigen Muslimen durch einen fruchtbaren Boden, den ein östlicher Zweig des Sufismus bereits im 12. Jahrhundert bereitete. Unter dem Fluidum dieser mystischen Schule kann es dann auch mal zu einem Aufruf zum „Dschihad gegen die Marktwirtschaft“ kommen, wie er dem deutschen Konvertiten und heutigen Herausgeber der „Islamischen Zeitung“, Andreas Abu Bakr Rieger, in den 90er Jahren entfleucht sein soll.

Aber die ursprüngliche Lehre des Islams, die sich aus dem Koran, aus der Sunnah (dem Lebensbeispiel des Propheten) und den Berichten der drei besten Generationen ableitet, ist vollkommen frei von derlei Ideologien.

Der Autor dieser Zeilen hat das unzweifelhafte Glück, zum einen ein anständig indoktrinierter „Salafist“ zu sein und zum anderen ein fleißiger Leser zeitgenössischer Literatur aus klassisch liberaler und libertärer Feder. Denn ersteres bringt automatisch eine starke Bindung zu den Quelltexten der Religion mit sich, was dazu führt, dass man viel darin liest und forscht, und zweiteres sorgte zumindest in seinem Fall dafür, dass er viele Parallelen auftun konnte zwischen der Ökonomie, wie sie die islamischen Quellen lehren, und jener, wie sie abendländische Freiheitsdenker favorisieren.

Da wir mit Abu Bakr Rieger bereits auf die Marktwirtschaft zu sprechen kamen, möchte ich hier gern eine solche Parallele aufzeigen: In einem der zahlreichen Bücher von Roland Baader, die ich in meinem Regal stehen habe, las ich mal den folgenden Auszug des schweizerischen Rechtswissenschaftlers und Autors Robert Nef: „Der Tausch ist in Form des Stoffwechsels ein Naturphänomen, eine Voraussetzung organischen Lebens. Wer das begriffen hat, weiß um die Anmaßung von Wissen, um die Unmöglichkeit der rationalen Kalkulation von Preisen, von zentraler Planung und so weiter. Nur Gott kennt den wahren Preis. Säkularisiert ausgedrückt: Niemand darf sich anmaßen, solche Größen zu kennen, ‚wissenschaftlich‘ zu beweisen und allgemeinverbindlich vorzuschreiben.“

Sofort und unweigerlich fühlte ich mich durch dieses Zitat an eine authentische Überlieferung erinnert, die bis zum Propheten zurückgeht und somit als eine Sunnah und verbindlicher Quelltext gilt. Sie lautet wie folgt: „Zur Zeit des Gesandten Allahs sind die Preise in Medina in die Höhe gegangen. Da sagten einige Leute: ‚Oh Gesandter Allahs, die Preise sind in die Höhe gegangen, setze doch für uns die Preise fest.‘ Da sagte der Gesandte Allahs: ‚Allah ist der, der die Preise festlegt, der, der (die Waren) zurückhält, und der, der (die Waren) ausstreckt, und Er ist der Versorger.“

Diese Überlieferung war für die überwältigende Mehrheit der Gelehrten ein unumstößlicher Beweis für die freie Marktwirtschaft und dafür, dass diese im Islam geschützt wird.

Eine weitere Parallele fand ich ebenfalls bei der Lektüre eines Baader-Werkes. In seinem Buch „Die belogene Generation“ wird er auf Seite 203 von seinem fiktiven Interviewer mit der Frage nach der christlichen „Ethik des Teilens“ konfrontiert. Recht schnell räumt Baader mit diesem Trugschluss auf und zeigt, dass in der Bibel selbst das Teilen nur einmal, und zwar „im Zusammenhang mit einem Erbgang“ Erwähnung findet, und sich somit auf ein Vermögen bezieht, das keinen Eigentümer mehr hat und deshalb auf die Erben aufgeteilt werden muss. Bei Achtung der Eigentumsrechte jedoch ist ausschließlich das Geben ein Akt, der vom Eigentümer ausgeht und somit eine einwandfreie Übereignung darstellt.

Die Überlieferung, die mir in diesem Fall und bezüglich des Teilens sofort in den Sinn kam, war eine Begebenheit des Prophetengefährten Abd ar-Rahman ibn Auf, der einer der bekanntesten und wichtigsten Gefährten des Propheten war. Diese Begebenheit spielte sich in Medina ab, wohin der Prophet mit vielen Anhängern auswandern musste, als die Lage in Mekka für sie zu gefährlich wurde. Die Reise in das mehrere hundert Kilometer entfernte Medina war lang und entbehrungsreich und die Auswanderer waren allesamt mittellos bei ihrer Ankunft. Aus diesem Grunde suchte der Prophet für jeden ausgewanderten Mekkaner eine der zahlreichen Gastfamilien in Medina aus, die sich freiwillig als Helfer anboten. Die Familie des hilfsbereiten und sehr wohlhabenden Saad ibn al-Rabi sollte den Prophetengefährten Abd ar-Rahman ibn Auf aufnehmen.

Als er nun im Hause des Saad ibn al-Rabi Einkehr fand, machte dieser ihm ein verführerisches Angebot. Er bot ihm an, sein gesamtes Vermögen mit ihm teilen zu wollen, ja sogar von einer seiner zwei Ehefrauen wollte er sich scheiden lassen, damit sein Gast sie heiraten könne. Abd ar-Rahman ibn Auf jedoch lehnte dieses Angebot dankend ab. Er erkundigte sich lediglich nach einem Ort, an dem Handel betrieben wird, und machte sich umgehend auf den Weg dorthin. Auf dem Marktplatz des nahegelegenen Stammes Banu Qainuqa machte er dann innerhalb kürzester Zeit einen dermaßen großen Profit, dass er schnell zu den vermögendsten Kaufleuten Medinas aufstieg.

Das Teilen war diesem Mann, der bis heute eine wichtige Stellung im Islam besitzt, also nicht recht. Ebenso wie der Prophet war er ein cleverer Kaufmann, der sogar auf ein und demselben Marktplatz in der Lage war, anständige Gewinne zu akquirieren.

Diese Haltung spiegelt eine Ethik wider, die im Islam fest verankert ist. Reichtum und das Streben nach Profit, egal ob durch Dienstleistung, Handwerk, Handel oder Kapitaleinsatz, ist gewollt und hat keinerlei schlechten Ruch.

Der muslimische Ökonomieprofessor Abdul Azim Islahi schrieb 1981 in seiner Doktorarbeit „Economic Concepts of Ibn Taimiyah“ (Ibn Taimiyah ist ein islamischer Gelehrter des 13. Jahrhunderts, der besonders unter heutigen „Salafisten“ hohes Ansehen genießt) Folgendes: „Die Verpflichtung eines Mannes, sich und seine unterhaltsberechtigten Angehörigen zu versorgen, erfordert unter anderem weltliche Mittel, was ihren Erwerb zu einem (religiösen) Gebot werden lässt. Ibn Taimiyah stützt diese Ansicht, indem er einen der frühesten Rechtsgelehrten zitiert, nämlich (den Salaf) Said bin al-Musayyib, der sagte, dass nichts Gutes an einer Person sei, die Reichtum verabscheut, wo doch eine Person damit in der Lage sei, ihrem Herrn zu dienen, ihre Verbindlichkeiten zu begleichen, sich selbst zu beschützen und unabhängig von anderen zu bleiben.“

Unabhängig zu sein und den Unterhalt der Familie selbst zu bestreiten, das ist für jeden Muslim eine religiöse Plicht. So sagte der Prophet: „Niemand aß je eine bessere Speise als von seiner eigenen Hände Arbeit.“ Bei einer anderen Gelegenheit sagte er: „Ich schwöre bei Dem, in Dessen Hand mein Leben ist, dass es für euch besser ist, ein Seil zu nehmen und damit auf eurem Rücken ein Bündel Brennholz herbeizubringen, als zu einem anderen zu gehen und diesen anzubetteln, der ihm entweder etwas gibt oder nichts gibt.“ Und als er mal gefragt wurde, welches der beste Erwerb sei, da antwortete er: „Die Arbeit eines Menschen mit eigenen Händen, und jeder Handel, der von Gott angenommen ist.“

Der Islam verfügt also über gewichtige ökonomische Vorbilder und eine anständige Arbeitsethik, die den Menschen zur Eigenverantwortung und Unabhängigkeit erzieht und weder das Profitstreben noch den erwirtschafteten Reichtum verurteilt. Und so plädieren auch zeitgenössische islamische Autoritäten klar und deutlich für ökonomische Freiheiten, wie der bekannte Professor Muhammad Nejatullah Siddiqi, der in einem Vorwort schrieb: „Wir brauchen eine gut versorgte Gesellschaft, aus der Armut verbannt und in der Wohlergehen für alle gewährleistet wird. Der Weg zur Verwirklichung dieses Ziels ist die Freiheit des Unternehmer- und Eigentums, lediglich begrenzt durch feste moralische Regeln, beaufsichtigt von einem gerechten Staat, der diesen göttlichen Gesetzen Geltung verschafft.“

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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