Zum Jom haSchoa: Was war Theologie für den jüdischen Agnostiker Max Horkheimer?

Heute begeht der Staat Israel den „Jom haSchoa“, den „Tag des Gedenkens an den Holocaust“. Es ist ein Nationalfeiertag, an dem man der Opfer der Shoah einerseits und des jüdischen Widerstands und dem Heldentum der jüdischen Untergrundkämpfer andererseits gedenkt.

Der Holocaust war für viele Juden – und das gesamte Judentum weltweit – ein einschneidendes Erlebnis, eine Erfahrung, die vieles veränderte. Vor allem wurden zwei Fundamente des jüdischen Lebens zutiefst erschüttert, nämlich das Vertrauen in die Völker, in deren Mitte Juden weltweit in der Diaspora lebten und der Glaube an den Gott, der so etwas grauenhaftes zulassen konnte.

Vor allem auch das Erstarken des politischen Zionismus muss in Verbindung mit diesen Erschütterungen gedacht werden. Der Verrat vieler Völker und Staaten, an den Juden in ihrer Mitte, vor allem im damaligen Deutschen Reich, aber auch anderswo, war unglaublich, und somit bekam die zionistische Idee, die zuvor lediglich eine Minderheit unter den Juden weltweit ansprach, fast so etwas wie eine alternativlose Verbindlichkeit.

Die Erschütterung des Glaubens war eine andere Sache. Ähnliche Entwicklungen kann man heute übrigens auch bei vielen Muslimen erkennen, die sich mit Blick auf die Zustände in vielen muslimischen Staaten, die zweifellos auch von religiös motivierten Protagonisten befeuert und verantwortet werden, in große Glaubenskrisen geworfen sehen.

Wer das qualitative und quantitative Ausmaß des organisierten Völkermordes an den Juden sich auch nur ansatzweise vergegenwärtigt, sich empathisch damit auseinandersetzt, wird vermutlich zumindest ein Gefühl dafür bekommen, wie dies den Glauben an einen allmächtigen, gütigen und barmherzigen Gott erschüttern kann.

Somit möchte ich zum heutigen Tage einen Juden zitieren, einen Juden, den man nach eingehender Lektüre durchaus weder als Theisten noch als Atheisten bezeichnen kann, nämlich den Philosophen Max Horkheimer (1895–1973).

In einem Interview mit ihm , das 1970 unter dem Namen „Die Sehnsucht nach dem ganz Anderen. Ein Interview mit Kommentar von Helmut Gumnior“ beim Furche Verlag in Hamburg publiziert wurde, antwortete Horkheimer auf die die Frage …

»Bedeutet das, weil wir wissen, daß wir endliche Wesen sind, daß wir sterben müssen, wissen wir auch, daß es das Unendliche gibt, daß Gott existiert?«

… mit folgenden Worten:

»Nein, so kann man es nicht sagen. Wir können die Existenz Gottes nicht beweisen. Das Bewußtsein unserer Verlassenheit, unserer Endlichkeit ist kein Beweis für die Existenz Gottes, sondern es kann nur die Hoffnung hervorbringen, daß es ein positives Absolutes gibt. Angesichts des Leidens auf dieser Welt, angesichts des Unrechts ist es doch unmöglich, an das Dogma von der Existenz eines allmächtigen und allgütigen Gottes zu glauben.«

Konkreter wird Horkheimer etwas später, als der Interviewer sagt:

»Entscheidend ist also, wenn ich es zuspitzen darf, die eigene Haltung, das Tun; unwichtig ist, ob es einen Gott gibt, ob ich an ihn glaube oder nicht glaube.

Hier antwortet er nämlich:

»Dialektisch gesehen ist es wichtig und unwichtig zugleich. Unwichtig deshalb, weil, wie ich schon gesagt habe, wir über Gott nichts sagen können, und die Lehre der christlichen Religion, daß es einen allmächtigen und allgütigen Gott gibt angesichts des Leidens, das seit Jahrtausenden auf dieser Erde herrscht, kaum glaubhaft ist.

Wichtig ist es deshalb, weil hinter allem echten menschlichen Tun die Theologie steht. Denken Sie daran, was wir, Adorno und ich, in der „Dialektik der Aufklärung“ geschrieben haben. Es heißt dort: Politik, die, sei es höchst unreflektiert, Theologie nicht in sich bewahrt, bleibt, wie geschickt sie sein mag, letzten Endes Geschäft.«

Und ab hier wird der weitere Verlauf des Interviews aus meiner Sicht interessant.

»H. G.: Was bedeutet hier aber Theologie?

MAX HORKHEIMER: »Ich will versuchen, das zu erklären. Vom Standpunkt des Positivismus aus gesehen, läßt sich keine moralische Politik ableiten. Rein wissenschaftlich betrachtet, ist der Haß, bei aller sozial-funktionellen Differenz nicht schlechter als die Liebe. Es gibt keine logisch zwingende Begründung dafür, warum ich nicht hassen soll, wenn ich mir dadurch im gesellschaftlichen Leben keine Nachteile zuziehe.«

H. G.: Der Positivist kann also, wenn ich Sie recht verstanden habe, etwa im Sinne George Orwells sagen: Krieg ist so gut oder so schlecht wie Frieden, Freiheit ist so gut oder so schlecht wie die Sklaverei, die Unterdrückung.

MAX HORKHEIMER: Das ist absolut richtig, denn wie läßt es sich exakt begründen, daß ich, wenn es mir Spaß macht, nicht hassen soll. Der Positivismus findet keine die Menschen transzendierende Instanz, die zwischen Hilfsbereitschaft und Profitgier, Güte und Grausamkeit, Habgier und Selbsthingabe unterschiede. Auch die Logik bleibt stumm, sie erkennt der moralischen Gesinnung keinen Vorrang zu. Alle Versuche, die Moral anstatt durch den Hinblick auf ein Jenseits auf irdische Klugheit zu begründen — selbst Kant hat dieser Neigung nicht immer widerstanden —, beruhen auf harmonistischen Illusionen. Alles, was mit Moral zusammenhängt, geht letzten Endes auf Theologie zurück, alle Moral, zumindest in den westlichen Ländern, gründet in der Theologie — wie sehr man sich auch bemühen mag, die Theologie behutsam zu fassen.

H. G.: Nochmal meine Frage, Herr Horkheimer: Was bedeutet hier Theologie?

MAX HORKHEIMER: Auf keinen Fall steht Theologie hier für die Wissenschaft vom Göttlichen oder gar für die Wissenschaft von Gott. Theologie bedeutet hier das Bewußtsein davon, daß die Welt Erscheinung ist, daß sie nicht die absolute Wahrheit, das Letzte ist. Theologie ist — ich drücke mich bewußt vorsichtig aus — die Hoffnung, daß es bei diesem Unrecht, durch das die Welt gekennzeichnet ist, nicht bleibe, daß das Unrecht nicht das letzte Wort sein möge.

H. G.: Theologie als Ausdruck einer Hoffnung?

MAX HORKHEIMER: Ich möchte lieber sagen: Ausdruck einer Sehnsucht, einer Sehnsucht danach, daß der Mörder nicht über das unschuldige Opfer triumphieren möge.«

Mit diesen beiden letzten Sätzen Horkheimers möchte ich gern jene meiner muslimischen Geschwister und jüdischen Freunde in Gedanken zurücklassen, die gerade wegen des Unrechts und Grauens in der Welt am Glauben an den einen Gott hadern.

Ganz sicher ist dieser philosophische Standpunkt Horkheimers kein korrektes und gefestigtes Verständnis vom Glauben im Islam, aber immerhin bietet dieser Zustand für Zweifler zwei großartige Wegbereiter, nämlich Hoffnung und Sehnsucht nach einem Tag des Gerichts (Quran: Yaum ad-dīn / Torah: Yom haDin), dessen Richter letzten Endes nur Einer sein kann.

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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