Buchauszug: Ibn Khaldun – Die Ernennung eines Imams ist unerläßlich

«Die Ernennung eines Imams ist unerläßlich. Seine Notwendigkeit wird im religiösen Gesetz durch den Konsensus der Prophetengefährten und der Nachfolgegeneration als rechtens anerkannt, denn die Gefährten des Gesandten Allahs – Allah segne ihn und schenke ihm Heil – schickten sich bei seinem Tode alsbald an, Abü Bakr – Allah möge an ihm Wohlgefallen haben – den Treueid zu leisten und ihm die Aufsicht über ihre Angelegenheiten zu übertragen. So war es auch in allen Jahrhunderten danach, und zu keiner Zeit wurden die Menschen einem Chaos überlassen. Seine Grundlage hatte dies im Konsensus, der den Beweis für die Notwendigkeit eines Imams liefert.

Nun haben einige Menschen die Ansicht vertreten, daß die Notwendigkeit (des Kalifats) durch den menschlichen Verstand angezeigt werde und daß der zustande gekommene
Konsensus eben die Macht des Intellekts dabei belege. Sie führen an, daß die rational begründete Unerläßlichkeit (eines Kalifen) aus der Notwendigkeit des Zusammenschlusses der Menschen und ihres Unvermögens, einzeln zu leben und zu existieren, herrühre. Aus der Notwendigkeit des menschlichen Zusammenschlusses folgten Streitigkeiten, da die Interessen unterschiedlich und vielgestaltig seien. Solange es keine (die Menschen) zügelnde und (sie) beherrschende Person gebe, führe dies zu Unruhe, die zur Folge habe, daß die Menschheit unterginge und ausgelöscht werde. Dennoch sei aber die Bewahrung der menschlichen Gattung eine der grundlegenden Zielsetzungen des religiösen Gesetzes.

Eben diese Auffassung ist es auch, die die Philosophen zum Ausdruck brachten, wenn sie die Unerläßlichkeit von Prophetien für die Menschheit nachweisen wollten. Auf deren Fehlerhaftigkeit haben wir bereits aufmerksam gemacht. Eine dieser Prämissen ist, daß der zügelnde Einfluß vom religiösen Gesetz Allahs herrühre, dem sich die Menschen wie einer Glaubenssache und in religiöser Überzeugung unterwürfen. Dem ist nicht zuzustimmen, da der zügelnde Einfluß durch die Autorität des Königs und die Gewalt der Mächtigen auch dann zustande kommen kann, wenn es kein religiöses Gesetz (unter den Menschen) gibt. So ist es bei den Völkern der Magier und den anderen, die kein (Heiliges) Buch besitzen oder von keiner (prophetischen) Verkündigung erreicht wurden, der Fall. Wir könnten auch sagen: Zur Beilegung der Streitigkeiten genügt das Wissen eines jeden, daß sich Ungerechtigkeit vom Verstand her für ihn verbietet. Dann ist die Behauptung der islamischen Philosophen, daß die Streitigkeiten in einem Fall durch die Existenz des religiösen Gesetzes und im anderen Fall durch die Stellung eines Imams beigelegt würden, unkorrekt. So, wie dies durch die Stellung eines Imams bewirkt werden kann, kann es auch durch mächtige Führer geschehen, oder indem die Menschen es sich selbst versagen, miteinander im Zwist zu liegen und sich gegenseitig Unrecht zuzufügen. Demzufolge trifft der intellektuelle Beweis der Philosophen, auf dem diese Prämisse fußt, nicht zu. Das (alles) weist darauf hin, daß die Notwendigkeit des Kalifats (ausschließlich) durch das religiöse Gesetz, nämlich den Konsensus, wie wir vordem ausführten, angezeigt wird.

Einige Leute nehmen eine Ausnahmestellung ein und behaupten, daß eine solche Position an der Spitze (des Staates) weder verstandesmäßig noch durch das religiöse Gesetz zu begründen sei. Zu ihnen gehören hartnäckige Vertreter von der Mutazila, einige Kharidjiten und andere. Ihnen zufolge hat der Imam nicht mehr als die Herrschaft des religiösen Gesetzes zu gewährleisten. Doch wenn die Gemeinschaft der Muslime im Einvernehmen Gerechtigkeit walten ließe und die Vorschriften Allahs, des Erhabenen, erfüllte, bedürfte man (gar) keines Imams und wäre dessen Stellung nicht vonnöten. Diese Leute werden durch den Konsensus widerlegt. Daß sie zu derartigen Ansichten gelangten, liegt (im Versuch) begründet, der königlichen Herrschaft und ihrem anmaßenden, bedrückenden und genußsüchtigen Gebaren in den weltlichen Angelegenheiten zu entrinnen, zumal sie sahen, daß das religiöse Gesetz dergleichen mißbilligt, die betreffenden Leute tadelt und darauf hinwirkt, von ihnen Abstand zu nehmen.»

(Ibn Khaldun, Buch der Beispiele – Die Einführung / al-Muqaddima, übersetzt von Mathias Pätzold, Reclam-Verlag Leipzig ©1992, Seite 142-143)

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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