Buchauszug: Roland Baader – Der Gott der Vernunft / Die Dunkle Seite der sogenannten Aufklärung

Bereits mit einem Auszug aus dem Buch Über die Staatsgewalt von Prof. Bertrand de Jouvenel habe ich auf diesem Blog einen kritischen Blick auf die sogenannte Aufklärung gerichtet, die er schlicht und ergreifend als Die rationalistische Krise bezeichnet. [hier>>]. Roland Baader befasst sich in seinem Buch totgedacht ebenfalls mit einer Auswirkung der Aufklärung in seinem Kapitel Der Gott der Vernunft.

„Die vorwiegend auf den Lehren und Werken von Isaac Newton (1643-1727) aufbauenden Naturwissenschaften waren im Verlauf des 18. Jahrhunderts so erfolgreich geworden, daß sich unter den Gelehrten Europas eine regelrechte Technik-Euphorie ausbreitete und das Bildungswesen sich mehr und mehr auf die Naturwissenschaften konzentrierte, allen voran die Physik, die Mathematik und die Biologie. Besonders in Frankreich, wo die große Revolution fast alle überkommenen Institutionen und Traditionen ausgelöscht hatte, war auf dem Bildungssektor eine tabula rasa entstanden, auf welcher nunmehr der naturwissenschaftliche Fortschrittsglaube mächtig ins Kraut schießen konnte. Die bislang auf den Ideen und Werken der Antike beruhende Bildung wurde als „alter Zopf“ verworfen und durch das technische Wissen der Natur- und Ingenieurwissenschaften ersetzt. Der Gott der Vernunft, dem man in der Revolution gehuldigt hatte, verlangte nach einer Bildung, die sich auf die „streng an der Vernunft ausgerichteten“ Naturwissenschaften konzentrierte. […]

Die sichtbaren Erfolge und rasanten Erkenntnisfortschritte der Naturwissenschaften verführten auch die noch verbliebenen Gelehrten der Philosophie und der Staats- und Gesellschaftswissenschaften dazu, mehr und mehr die Methoden und das Vokabular der technisch-mathematischen Disziplinen zu übernehmen. Umgekehrt neigten immer mehr Naturwissenschaftler und Ingenieure dazu, sich den Themen der Staats-, Gesellschafts- und Wirtschaftsphilosophie unter Anwendung ihrer eigenen Denkmethoden‚ Begriffe und Formeln zuzuwenden. Die erste Generation der an der Ecole Polytechnique Lehrenden und Studierenden konnte sich Ambitionen solcher Art noch weitgehend entziehen, die zweite Generation schon weniger, und die dritte Generation machte diese irrige Vorgehensweise bereits zum Kult.

Die Übertragung der Methoden und Denkweisen der Naturwissenschaften auf die Geisteswissenschaften war (und ist) ein verhängnisvoller Irrtum, und zwar aus mehreren Gründen. Als wichtigste dieser Gründe sind zu nennen:

Erstens die systematische Überschätzung der Vernunft und des Verstandes seitens der Naturwissenschaftler und Ingenieure. Die Tatsache, daß mehr und mehr Rätsel der Natur mit den Methoden des forschenden Experimentierens und mit der fortschreitenden Erkenntnis der Naturgesetze gelöst und „enträtselt“ werden konnten, verführte zu dem Glauben, es sei nur eine Frage der Zeit und des intensiveren Gebrauchs des Verstandes, bis schließlich alle Naturgesetze und somit alle Geschehnisse in der Natur entschlüsselt seien – und zwar inklusive des Wesens der Vernunft und des Verstandes selber, die somit bis zum Idealzustand der „reinen Vernunft“ und des „alles beherrschenden und alles verstehenden Verstandes“ fortentwickelt werden könnten.

Zweitens führten die rasanten Fortschritte bei der Erkenntnis der Naturgesetze und ihrer Wirkungsweisen zu der falschen Annahme, auch das menschliche Verhalten, Handeln, Entscheiden, Denken und Empfinden müsse gewissen – den Naturgesetzen gleichen oder doch sehr ähnlichen – Gesetzmäßigkeiten unterliegen, die es nur besser zu erkennen gelte, um alsdann auf der Grundlage des komplettierten Wissens das menschliche Verhalten letztlich ganz enträtseln und somit auch Verändern und „vernünftiger“ gestalten zu können.

Drittens verführte die naturwissenschaftliche Erkenntnis der Tatsache, daß sich die Bausteine der Natur, von den Atomen über die Elemente bis zu Pflanzen und Tieren, nach „ewig gleichen Gesetzen“ verhalten und entwickeln, zu dem Glauben, auch der Mensch und die Menschheit als Ganzes unterliege solchen unabänderlichen und unausweichlich vorgegebenen Regelmäßigkeiten, sodaß man sie schließlich in Formeln gießen – und somit auch das künftige Geschick oder die Geschichte der Menschheit voraussagen könnte. Zu dieser von Condorcet gegen Ende des 18. Jahrhunderts ausdrücklich formulierten Überzeugung schreibt F. A. von Hayek: „Die Idee von Naturgesetzen der geschichtlichen Entwicklung und die kollektivistische Betrachtung der Geschichte war geboren, zwar nur als kühne Vorschläge, aber doch, um mit uns zu bleiben in einer kontinuierlichen Tradition bis auf den heutigen Tag.“ (Hayek 1955/1959, S. 148f.)

Und Viertens resultierte aus dem in den Naturwissenschaften fast bei allen Vorgängen zu eruierenden Zusammenhang zwischen Ursache und Wirkung der Irrglauben, auch die gesellschaftlichen Institutionen und Phänomene müßten eine jeweils singuläre Ursache oder Quelle haben – und zwar den menschlichen Verstand und den zugehörigen Willen. Der Grundgedanke lautete also: Der Mensch hat die Einrichtungen der Gesellschaft und der Kultur selbst geschaffen, weil er mit Vernunft begabt ist – und deshalb kann er diese Institutionen und Gebräuche auch nach seinem Belieben verändern und neu gestalten.

(Roland Baader, Totgedacht – Warum Intellektuelle unsere Welt zerstören, Seite 176-178)

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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