H. H. Frank über den Sufismus (6. Teil)

Nach längerer Zeit setze ich nun die Abschrift aus dem Buch «Das Abendland und das Morgenland – Eine Zwischenreichbetrachtung» von Herman Heinrich Frank fort, dass 1901 im Leipziger Hermann Seeman Nachfolger Verlag publiziert wurde.
Eine Linkliste mit allen bisher verschriftlichten Teilen der Abschrift findet ihr oben im Menü unter «Beitragsserien».

„Also sehen wir, daß die Sufi trotz größter Verschiedenheiten in der äußeren Form ihrer Lehre, innerlich eigentlich die Gebildeten im Orient sind. Indes hat natürlich das ausführlich geschilderte orientalische Wesen, hauptsächlich deswegen weil staatlich, wirtschaftlich, klimatisch der Orient seine besondere Form hat, der Sache ebenfalls ihre besondere Form gegeben, die selbstverständlich auf das Abendland nicht ohne weiteres anwendbar ist.

Hingegen muß auf das allerstärkste hervorgehoben werden, daß die Beziehungen zur Religion selbst auf den einfältigsten Beurteiler im Abendland zu der Wahrnehmung führen können, daß der Derwisch obgleich weder den Satzungen des Islam unterthan, noch auch aber diese je verhöhnend oder verspottend, doch von der großen Masse, die dem Islam ergeben ist, geschützt und geschätzt wird; ferner, daß der Derwisch, obgleich aus Staat und wirtschaftlicher Lebensordnung herausgetreten, weder diese beiden verspottet noch feindselig betrachtet und daher auch mit diesen beiden im vollsten Einvernehmen lebt. Kein Derwisch hat Revolution gegen die Staatsgewalt, noch gegen das Kapital gepredigt.

Wir haben der Kürze wegen hier wiederholt den Ausdruck „Derwischlehre“ gebraucht. Man hat sich hierunter immer den Sufismus im allgemeinen zu denken und wolle nicht vergessen, daß hierbei zunächst immer nur von vorübergehenden oder habituell gewordenen „Zuständen und Empfindungen“ gesprochen werden kann. Wie man diese deutlich mache, durch Worte bezeichne, als Begriffe lehre, die Mittel (geistige oder körperliche Diät) angebe, um diese Zustände und Empfindungen zu erzeugen, als die gemeinten zu erkennen, zu befestigen, als einen aufsteigenden Weg der Läuterung zu begreifen, dieses alles gehört eben in den Bereich der tastenden Versuche und zu den Verschiedenheiten der Methode der einzelnen Orden, ja sogar der einzelnen selber.

Es bleibt uns noch übrig folgende zwei Fragen zu besprechen.

1. Was ist die moderne soziale Frage?

2. Gibt es ein Mittel, wenn wir die Schäden erkannt haben, uns in friedlicher Weise damit auseinander zu setzen? Und gibt es etwa ein Sufitum, daß sich aus dem Orientalischen ins Europäische übersetzen ließ?

Indem wir das vorausgeschickte als gegenwärtig voraussetzen, ordnen wir nunmehr die Bausteine zu einem Ganzen.

Der modernen Kultur versuchen wir aus der Vogelschau folgende Charakteristik zu geben:
Die metaphysischen Wahrheiten haben durch Majorität Jahrhunderte hindurch einen Zwang erfahren, der sie

1. als Wahrheiten deklarierte ,
2. Identität von Wesen und äußerer Satzung dekretierte.
3. gegen die Natur und Geisteswissenschaft aus eigener Machtvollkommenheit abgrenzte.

Durch die geschichtliche Entwicklung wurden diese Kräfte sämtlich frei und es erstarkte eine politische, profane Ordnung, die volle Entfaltung der geistigen Kräfte im Gefolge hatte. Diese warfen sich auf die Naturwissenschaften, deren praktische Indienststellung der Naturkräfte durch die überraschendsten Tatsachen völlig blendete, die Geisteswissenschaften (Beobachtung des okkulten Seelenlebens, der Moral ect.) in den Hintergrund drängte und der materiellen Weltanschauung zum völligen Siege verhalf. Hiermit trat ein ungeahnter Aufschwung des Handels, Wandels, Verkehrs und Mehrung des nationalen Vermögens ein. Diese von der Empirie geschaffenen Tatsachen erzeugten die zwei jüngsten Wissenschaften: die Nationalökonomie und Statistik.

Hiermit erstand eine theoretische und praktische Erkenntnis der allgemeinen ökonomischen Lebensbedingungen, die, Anfangs nach einer gewaltsamen Lösung verlangend, später einen legalen Ausweg sucht, um sich zu verwirklichen.

Bei dieser Sachlage aber ist der Mensch, statt die Natur zu unterwerfen, selber in den Dienst der Maschine, in ihre Räder geraten. Die Kultur hat sich derartig gesteigert, daß im Abendland für den einzelnen eine Ausschließung von derselben nicht möglich ist. Der Mensch ist dadurch in einen härteren Kampf geraten und braucht seine gesammte Kraft, um sich überhaupt zu halten, zu behaupten. Die soziale Frage liegt nun darin, daß diese Kraftleitung einesteils nur in den Kreis der wirtschaftlichen und merkantilen Interessen gestellt ist und daß andererseits ein geistiger Mangel durch dieses gänzliche Aufgebrauchtwerden nun doch empfunden wird. Hierbei hat sich herausgestellt, daß ein Entfliehen aus dem Tretrad nicht möglich ist, d. h. das Leben ist materiell geworden, das Leben ist teurer geworden als es wert ist, es rentiert geistig und seelisch nicht mehr. Der Verlauf des Lebens hat somit eine merkantile Uniformierung erhalten.

Die entgegengesetzten Bestrebungen, eine geistige Selbstbehauptung im Volksleben ist die äußere Religion, im Gegensatz zur inneren, subjektiven, religiösen Überzeugung. Der Religion nun fällt die Aufgabe zu, gegen den eingestandenen Mangel – die Literatur mit den photographischen Wirklichkeitsbildern: Ibsen, Tolstoi, Zola, Sudermann verleiht der Sachlage einen unzweideutigen Ausdruck! – im Volksleben wieder abzuhelfen.

Hierbei stellt sich heraus, daß die äußeren Zwangsmittel der äußeren sichtbaren Religion versagen. Das heißt nicht etwa, daß die Religion fort sei, noch abgesetzt werden könne, aber sie ist zu schwach geworden, um gegen die wirtschaftlich herrschenden Meinungen aufzukommen.

Oder deutlicher: wenn dei berufenen Diener der Religion und ihre ordnungsgemäß berufenen Ausschüsse heut das Abstehen von wirtschaftlichen Forderungen predigen, d. h. Genügsamkeit gegen einen Lohn im Jenseits lehren, so weisen die Arbeiterkreise darauf hin, daß die Ausbeutung der Massen durch die Besitzenden von derselben Religion nicht verhindert worden sei.

Oder mit anderen Worten: der rein ideale Glaube an ein Jenseits ist nicht mehr im stande, die wirtschaftlichen Maßnahmen im Diesseits zu beherrschen. Es ist selbst ein Zeichen der Zeit, daß der ehrliche Kapitalist nicht den Mut mehr hat, dem Proletarier mit Phrasen zu kommen. Er hat aber  – von etwas sozial humanem Gebahren abgesehen – nichts gelernt und nichts vergessen. Er hat nicht den Mut das Indifferenzgesetz zu bekennen. Wir sind zu materiell, der Natur entfremdet, wir gefallen uns in den Schmerzen und Freuden unserer Kultur!“

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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