Was ist Antisemitismus? (2. Teil)

Mit den Begriffen „Semit“ und „Arier“ schaffte man letzendlich ein neues Begründungsmuster, welches dem Geiste der Zeit entsprach. Im Laufe der historischen Entwicklung durchlief die „Abneigung gegen die Juden“ jedoch noch 2 andersartige Hauptformen in der Begründung. Ganz am Anfang stand die religiöse Hauptform, nämlich der Antisemitismus aus christlicher Wurzel:

Als das Christentum römische Staatsreligion der untergehenden Antike und später des neuen Abendlandes wurde, kam es zu einem Antijudaismus, wie es ihn nie zuvor gegeben hatte.  Nur aus der Bedeutung der Juden für die Kirche ist diese Tatsache erklärlich. Für Griechen und Römer waren die Juden ein Volk unter anderen, für die Christen waren sie das wichtigste Volk. Der christliche Antisemitismus ist also im Gegensatz zur emotionalen Feindschaft von Seiten der Heiden ein intellektueller Vorgang, „eine logische Deduktion aus gegebenen Prämissen im Rahmen der christlichen Heilslehre“. … Die mittelalterliche Kirche, die die Seelen der Menschen noch leiten konnte, hat die Wucherungen der magischen Phantasie keineswegs mit allen Mitteln bekämpft, sondern die trüben Vorurteile des tief abergläubischen Volkes sich auswirken lassen. […]

Am erfolgreichsten war aber wohl, daß in der christlichen Vorstellung die Juden als „Kinder der Finsternis“ und als Abkömmlinge des Teufels [Joh. 8,44: Ihr habt den Teufel zum Vater und ihr wollt das tun, wonach es euren Vater verlangt….] galten. …Der Teufel und die Juden wurden identifiziert. Daß auf einer Reihe mittelalterlicher Bilder der Satan mit gebogener Nase („Judennase“) dargestellt wird, ist ein wichtiger Hinweis für diesen Prozeß.

(Quelle: Judentumskunde – Eine Einführung / Hans-Jochen Gamm / Seiten 35-38)

Als historisch folgende Hauptform ist der Antisemitismus aus wirtschaftlicher Wurzel zu nennen. Der Übergang zwischen der Phase des religiösen zum wirtschaftlichen Begründungsmusters ist fließend und ist auch nicht als absolut ablösend zu verstehen. Der Beginn des wirtschaftlichen Antisemitismus liegt bereits im 8. Jahrhundert:

Die jungen europäischen Völker steckten noch tief „in gemeinschaftlicher Agrarwirtschaft, als die Juden bereits eine von der antiken Welt übernommene hochentwickelte Kapital- und Individualwirtschaft pflegten, so daß die Juden mit Rechtsbewußtsein ausübten, was den Nichtjuden noch als Unrecht erschien (Geldzins, Wechselwesen, Aktienwesen, Börsenspekulation u.a.)“ Den Christen war durch Konzilsbeschlüsse auf Grund von Luk. 6,35 […sollt Gutes tun und leihen, auch wo ihr nichts dafür erhoffen könnt….] seit dem 8. Jahrhundert Zinsnahme für entliehenes Kapital verboten; gleichwohl brauchte auch die mittelalterliche Welt das Anleihgeschäft und überließ es den Juden. Die römischen Kirchenjuristen rechtfertigten das mit dem Hinweis, daß die Juden ohnehin verloren seien und es also auf eine Anzahl Sünden mehr oder weniger bei ihnen nicht ankomme. […]

Die sehr hohen Zinssätze (bis 50%) waren von der Obrigkeit gebilligt, die ihrerseits durch ein rücksichtsloses Besteuerungssystem von den Juden das erwucherte Geld wieder erpreßte. Die Juden besaßen also eine Art Schwammfunktion in der mittelalterlichen Welt und galten dem Staat als schätzenswerte Finanzquelle, dem Volk aber als Ausbeuter und Halsabschneider, zumal arme Leute durch Kapitalaufnahme und Pfandgabe oft in völlige Abhängigkeit gerieten und ihr Eigentum an Juden verloren. […]

Im Zeitalter des Absolutismus wirkten Juden als Finanzagenten („Hoffaktoren“) der Herrscher und versuchten, Steuern und Zölle zu erfinden, als Währungstechniker bei finanziellen Erschöpfungen zu fungieren und durch ihre weitreichenden Beziehungen den Fürsten Kredite zu beschaffen, die diese benötigten, um ihre Auffassung von glänzenden Metropolen in die Tat umzusetzen (Jud Süß). Die daraus folgende Verschuldung ließ manchen Finanzagenten beim Souverän in Ungnade fallen. Das Volk haßte jene zeitweiligen Günstlinge, die gewiß oft recht überheblich gewesen sein mögen.

(Quelle: Judentumskunde – Eine Einführung / Hans-Jochen Gamm / Seiten 38-39)

Einhergehend mit der Französischen Revolution begann in Europa eine Phase des „Humanismus“ und einer sogenannten „Aufklärung“. Die daraus resultierende Säkularisierung der Gesellschaften und Staaten führte zu einer drastischen Abschwächung der bisher bekannten Begründungsmuster für den Antisemitismus. Die Kirchen und ihre Lehren waren nicht mehr Mittelpunkt der Lebensführung und die Zeit der mittelalterlichen jüdischen Steuer- und Zinseintreiber war vorbei. Die (Finanz-)Wirtschaft wurde international.

In diese Zeit fällt genau die oben genannte Abgrenzung durch den Rassenbegriff. Die letzte Hauptform des Antisemitismus. Antisemitismus aus rassischer Wurzel. Wie bereits im 1. Teil veranschaulicht, wurde nun die Nennung der Sprachfamilie (semitisch) zum Rassenmerkmal stilisiert, dem gegenüber die (eigentlich fiktive) Rasse des weißen Ariers stand:

Alles, was über die Juden gesagt worden war, wurde jetzt auf die Semiten übertragen, und das Gegenteil galt immer von den Ariern.

(Vom Vorurteil bis zur Vernichtung: der Antisemitismus 1700-1933 / Jacob Katz / Seite 327)

[Fortsetzung >>]

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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