Buchauszug: Karl May – Kara ben Nemsi trifft einen Schiiten

Karl May ist wohl der bekannteste und meistgelesene Schriftsteller der deutschen Trivialliteratur. Besonders berühmt und berüchtigt sind sein 6-bändiger Orientzyklus und seine Winnetou-Trilogie. Der folgende Ausschnitt stammt aus dem 3. Band des Orientzyklus (Von Bagdad nach Stambul) und beschreibt die Begegnung seines Alter Egos (zweites Ich) Kara ben Nemsi und seinen Begleitern Hadschi Halef Omar, Hassan Ardschir-Mirza und Sir David Lindsay mit einem Schiiten, den sie auf dem Weg nach Kerbala antreffen.

Am Wege saß ein Bettler; er war vollständig nackt – bis auf einen schmalen Schurz, welcher um seine Lenden gegürtet war. Er hatte seinem Leide um den ermordeten Hosseïn in höchst widerlicher Weise Ausdruck gegeben: die Schenkel und Oberarme waren mit spitzigen Messern durchstochen, und in die Unterarme, Waden, in den Hals, durch Nase, Kinn und Lippen hatte er von Zoll zu Zoll lange Nägel getrieben; an den Hüften und im Unterleibe bis herauf zu den Hüften hingen, in das Fleisch eingebohrt, eiserne Haken, an denen schwere Gewichte befestigt waren; alle andern Theile seines Körpers waren mit Nadeln bespickt, und in die nackt rasirte Kopfhaut hatte er lange Streifen geschnitten; durch jede Zehe und jedes Fingerglied war ein Holzpflock getrieben, und es gab an seinem ganzen Körper keine pfenniggroße Stelle, welche nicht eine dieser schmerzhaften Verwundungen aufzuweisen hatte. Bei unserm Nahen erhob er sich und mit ihm ein ganzer Schwarm von Fliegen und Mücken, welche den über und über blutrünstigen Menschen bedeckten. Der Kerl war entsetzlich anzusehen.

»Dirigha Allah, waj Muhammed! Dirigha Hassan, Hosseïn!« kreischte er mit widerlicher Stimme und streckte bettelnd uns beide Hände entgegen.

Ich hatte in Indien Büßer gesehen, welche sich auf die fabelhaftesten Weisen Schmerzen verursachten, und mit ihnen immer Mitleid gefühlt; diesem fanatisch dummen Menschen aber hätte ich wahrhaftig lieber eine Ohrfeige als ein Almosen gegeben, denn neben dem Grauen, welches sein ekelhafter Anblick erweckte, konnte ich auch den Unverstand nicht ertragen, welcher so scheußliche Martern ersinnt, um den Todestag eines doch nur sündhaften Menschen zu begehen. Und dabei hält sich ein solcher Mensch für einen Heiligen, dem nach dem Tode der oberste Rang des Paradieses sicher ist, und der auch bereits hier auf der Erde neben reichlichen Almosen die demüthigste Verehrung zu beanspruchen hat.

Hassan Ardschir-Mirza warf ihm einen goldenen Doman zu.

»Hasgadag Allah – Gott segne Dich!« rief der Kerl, die Arme wie ein Priester erhebend.

Lindsay griff in die Tasche und gab ihm einen Gersch zu zehn Piaster.

»Subhalan Allah – gnädiger Gott!« sagte der Unhold schon weniger höflich, denn er stellte Allah und nicht Lindsay als Geber hin.

Ich zog einen Piaster hervor und warf ihm denselben vor die Füße. Der schiitische >Heilige< machte zuerst ein erstauntes Gesicht, dann aber ein sehr zorniges.

»Azdar – Geizhals!« rief er, und dann fügte er mit der Geberde des Abscheues und mit außerordentlicher Schnelligkeit hinzu: »Azdari, pendsch Azdarani, deh Azdarani, hezar Azdarani, lek Azdarani – Du bist ein Geizhals, Du bist fünf Geizhälse, Du bist zehn Geizhälse, Du bist hundert Geizhälse, Du bist tausend Geizhälse, Du bist hunderttausend Geizhälse!«

Er trat meinen Piaster mit Füßen, spie darauf und zeigte eine Wuth, vor welcher man sich unter andern Umständen hätte fürchten müssen.

»Sihdi, was heißt Azdar?« fragte mich Halef.

»Geizhals.«

»Allah ‚l Allah! Und wie heißt ein recht dummer, alberner Mensch?«

»Bisaman.«

»Und ein recht grober Flegel?«

»Dschaf.«

Da drehte sich der kleine Hadschi zu dem Perser hin, hielt ihm die flache Hand emporgerichtet entgegen, wischte sie am Beine ab, eine Geberde, welche für die größte Beleidigung gilt, und rief: »Bisaman, Dschaf, Dschaf!«

Auf diese Worte öffneten sich die rhetorischen Schleusen des Schiiten auf eine Art und Weise, daß wir Alle Reißaus nahmen. Der >heilige Märtyrer< befand sich im Besitze von Schimpfwörtern und Drastika, welche man unmöglich wiedergeben kann. Wir beugten uns vor seiner Überlegenheit und ritten weiter.

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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