Liberalismus mal anders betrachtet (2. Teil)

von Yahya bin Rainer al-Brusi

Der morgenländische und der abendländische Liberalismus, zwei wirklich verschiedene Paar Schuhe. Zur Zeit kann man in Ägypten ganz gut beobachten, wie sich die Anhänger des dortigen Liberalismus gebaren. Am Sonntag starb ein 15jähriger Anhänger der Muslimbrüder, als wildgewordene Liberale die Parteizentrale in der Stadt Damanhur stürmten (>>). Und auch der moralische Relativismus zeigt mehr und mehr seine hässlich Fratze in der Gesellschaft. (Siehe hier>> und hier>>)

Im Orient bedeutet Liberalismus in erster Linie eine Abkehr von Religion, religiöser Moral und Sitte. Vorbild sind nicht selten die Zustände in westlichen Zivilisationen, und dass vollkommen unabhängig davon, ob diese Zustände dort positiv oder negativ beurteilt werden.

Der klassische Liberalismus des Abendlandes jedoch unterscheidet sich grundlegend von dieser Sichtweise. Religion ist in der Wiege des Liberalismus – also in Europa – nicht nur ein freies Bekenntnis, sondern vielmehr integraler Bestandteil und Ursprung des selbigen. Hans-Hermann Hoppe, einer der bedeutendsten Sozialwissenschaftler der Gegenwart, widmet sich als Philosoph, Soziologe und Ökonom den wissenschaftlichen und gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit. In seinem Buch Demokratie, der Gott der keiner ist schreibt er auf Seite 417,

„Klassisch-liberale politische Philosophie … war zunächst und vor allem eine Morallehre. Auf der Philosophie der Stoiker und späten Scholastiker aufbauend, …“

… und die Spätscholastik (auch Zweite Scholastik genannt) war eine „theologisch-juristisch-philosophische katholische Strömung im 16. Jahrhundert, die hauptsächlich von den Ländern der iberischen Halbinsel ausging“ (wiki).

Auch der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Helmut Leipold drückt es in einer Publikation (Ordnungstheorie und Ordnungspolitik: Konzeptionen und Entwicklungsperspektiven, Seite 420 >>) ähnlich aus:

„Die Ideen der Unantastbarkeit der Freiheit, des Lebens, des Denkens, Glaubens und des Eigentums sind religiösen Ursprungs und wurden später von der liberaleren Ideologie aufgenommen und säkularisiert.“

Bezugnehmend auf die Bill Of Rights der Vereinigten Staaten, schreibt der deutsche liberale Volkswirt und freie Publizist Roland Baader in seinem Buch Das Kapital am Pranger (auf Seite 255-256), …

„Der Hinweis auf den Schöpfer macht deutlich, daß diese in der Tradition des Abendlandes stehende Freiheitsauffassung – anders als es uns einige moderne Polit-Pfaffen weismachen wollen – wesentliche Wurzeln im Christentum hat.“

… worauf er dann den großen katholischen Theologen und Religionsphilosophen Romano Guardini zitiert:

„Die Axiome der Unantastbarkeit der Person …, der Freiheit und Ehre jedes Menschen … – der grundsätzlichen Gleichberechtigung jenseits von Privileg und Begabung …, die Wahrheit des Wortes und die Verläßlichkeit des Vertrages – das, und vieles sonst enthält … als Gedanke wie als Motiv und als Haltung die Wirkungen von vielen Jahrhunderten christlicher Gewissensbildung und Menschenformung.“

Dieses Tatsache muss man aber nicht nur den wildgewordenen Liberinisten des Orients um die Ohren hauen, sondern auch vielen zeitgenössischen Liberalen des Okzidens. Den Orientalen, weil sie sich anscheinend speziell in dieser wichtigen Angelegenheit nicht an der Methodik des hochgelobten Westens orientieren wollen, und vielen hiesigen Liberalen, weil sie durch Inanspruchnahme des orwellschen Newspeak mittlerweile einem Liberalismusbegriff anheimgefallen sind, der mit dem klassischen aber rein gar nichts mehr zu tun hat. Hans-Hermann Hoppe geht auf diese Tragik in einer Fußnote ein, die auf Seite 411 seines o.g. Buches zu lesen ist.

„Im Gegensatz dazu [zum klassischen Liberalismus, Anm. d. Verf.] hat der moderne amerikanische „Liberalismus“ eine fast entgegengesetzte Bedeutung, die auf John Stuard Mill und sein 1859 erschienenes Buch On Liberty als den Ursprung des modernen moderaten – sozialdemokratischen – Sozialismus zurückgeht.“

Wie dem auch sei. Der klassische Liberalismus war und ist keine Hippie-Ideologie von Moral-, Sitten- und Gesetzlosigkeit, sondern ein Produkt christlich-theologischer Exegese. Echte klassisch-liberale Denker waren sich dessen immer bewusst und sie wurden nicht müde zu erklären, dass ohne Religion – samt ihrer Sitten- und Morallehre – keine wahre Freiheit möglich sein kann.

Der englische Historiker, liberale Katholik und Journalist Lord Acton (1834-1902) verpackte diesen Umstand passend in folgende Worte (zitiert in Das Kapital am Pranger, von Roland Baader, 275):

„Kein Land ohne Religion kann frei sein. Religion schafft und verstärkt das Pflichtbewußtsein. Wenn die Menschen nicht aus Pflichtgefühl anständig bleiben, muß die Furcht diese Rolle übernehmen. Je mehr sie aber von der Furcht bewacht werden, desto weniger frei sind sie. Je größer die Kraft des Pflichtbewußtseins, desto größer die Freiheit.“

Und wer das folgende Zitat des Freiheitsphilosophen Edmund Burke (1729-1797) (zitiert in Das Kapital am Pranger, von Roland Baader, Seite 274-275) liest, wird sich unweigerlich an die Lektüre eines islamischen Buches über Tazkiya erinnern:

„Die Menschen sind zu bürgerlichen Freiheit genau in dem Maße befähigt wie sie bereit sind, ihren eigenen Trieben moralische Fesseln anzulegen … Die Gesellschaft kann nicht existieren ohne daß irgendwo eine Kontrollmacht über ihre Wünsche und Triebe angesiedelt ist, und je weniger von dieser Kontrollmacht im Innern sitzt, desto mehr muß sie von außen kommen. Es liegt in der ewigen Ordnung der Dinge, daß Menschen von ungezügeltem Charakter nicht frei sein können. Ihre Leidenschaften schmieden ihre Fesseln.“

Diese zwei Passagen zeigen die (Ein-)Sicht theistischer Denker. Aus ihrer Warte scheint es sicherlich logisch, dass sie ihrer Religion diesen wichtigen Stellenwert einräumen. Roland Baader jedoch klärt uns darüber auf, dass die obigen Feststellungen sich nicht nur auf „Gläubige“ beschränken. So schreibt er auf Seite 275-276 seines Buches Das Kapital am Pranger folgendes:

„Zur selben Überzeugung kamen auch die Agnostiker unter den großen Freiheitsphilosophen. So auch Hayek, der zu diesem Thema am tiefsten geschürft hat. In unzähligen Schriften hat er dargelegt, daß die persönliche Freiheit nur in einer Gesellschaft bewahrt werden kann, in welcher die wichtigsten Werte wie die Achtung der Person, der Respekt vor dem Eigentum und das Halten von Verträgen fraglos gelten. Der Schlüssel hierbei ist das Wort fraglos. Nur wenn die Prinzipien des rechten und gerechten Verhaltens, die «man tut …» und «man tut nicht …»-Regeln in einer Gesellschaft in Form von religiösen Glaubensinhalten oder als tradierte Tabus gelten – und somit nicht rational „hinterfragt“ werden, können sie bei einer hinreichend großen Zahl von Bürgern verbindliche Leitlinien für das persönliche Verhalten bleiben. Sobald nur noch solche moralischen Werte und Verhaltensregeln anerkannt werden, die sich rational („vernünftig“) erklären und rechtfertigen lassen, gehen diese Werte verloren, weil die wenigsten von ihnen einer rationalen Begründung zugänglich sind. Sobald man hinter die Zehn Gebote der Bibel ein Warum? setzt, ist ihre – das menschliche Zusammenleben stabilisierende – Kraft dahin. Sie müssen dann durch den strafbewehrten Befehl ersetzt werden.“

Mal abgesehen von der Tatsache, dass Friedrich A. von Hayek ein Agnostiker war, muss hier auch unbedingt erwähnt werden, dass er „zu den wichtigsten Denkern des Liberalismus im 20. Jahrhundert“ gezählt wird und 1974 für seine „Pionierarbeit auf dem Gebiet der Geld- und Konjunkturtheorie und … Analysen des Zusammenhangs zwischen ökonomischen, sozialen und institutionellen Phänomenen mit dem Wirtschaftsnobelpreis ausgezeichnet“ (wiki) wurde. Also nicht irgendein philosophierendes Leichtgewicht, sondern ein wissenschaftliches Schwergewicht par excellence.

Die obigen Schlüsselwörter fraglos und tradiert dürften dem Leser schon bei der Lektüre des 1. Teils dieser Reihe aufgefallen sein. Dort schrieb ich:

„Im Morgenland war es das Schariarecht, das von den Libertinisten (und späteren Liberalen) als despotisch empfunden wurde, weil dieses tradierte Recht fraglos Geltung hatte, wie es der Islam – als Gesetzesreligion – nun einmal einmal vorschreibt.“

Was fraglos bedeutet, hat Baader ja sehr schön erklärt. Es wird einfach nicht in Frage gestellt bzw hinterfragt, da der Weisheit letzter Schluss häufig rational gar nicht zu erfassen ist. Das kennen wir Muslime auch aus unserer Scharia. Manche Verbote kann man ganz klar und rational erklären und begründen, andere wiederum entziehen sich unserer Logik und werden quasi „blind“ befolgt.

In einer liberalen – also freien – Gesellschaft werden den Menschen keine (oder zumindest nur sehr wenige) neue und willkürliche Zwänge auferlegt. Viele (die Gesellschaft und Gemeinschaft erhaltenden) Maßnahmen werden durch freiwilliges und karitatives Handeln erreicht. Diesen Umstand kennen wir auch aus dem Islam. Es gibt in einem islamischen Staat im Grunde nur zwei (islamisch gerechtfertigte) Pflichtabgaben, für Muslime einzig die Zakah und für Staatsangehörige anderer Konfessionen die Dschizya. Diese Abgaben waren nicht sehr hoch und somit konnte der Staat aufgrund seiner niedrigen Einnahmen auch nicht für alle gesellschaftlichen Bedürfnisse in Anspruch genommen werden.

All diese Ansprüche, für die der Staat nicht aufkommt, müssen freiwillig von der Gesellschaft übernommen werden. Religionen, und hier besonders die abrahamitischen (Islam, Christen- und Judentum), rufen ihre Anhänger dazu auf, oder verpflichten sie geradezu, über den Pflichtteil hinaus freiwillig zu spenden und zu helfen. Entfernt sich jedoch diese Religion aus den Köpfen, oder wird durch die Religion des Sozialismus (Sozialdemokratismus) ersetzt, dann schwindet diese Freiwilligkeit und der sozialistische Wohlfahrtsstaat nimmt sich mit Gewalt was er braucht, um seine Wahlversprechen zu finanzieren.

So ähnlich hat das auch Roland Baader ausgedrückt (Das Kapital am Pranger, Seite 277):

„Mit dem Niedergang des religiösen Glaubens und der fraglos geltenden Moralregeln schwindet auch die Karitas, die freiwillige Hilfsbereitschaft der Menschen für ihre in Not und Elend lebenden Mitbürger. Schon im Griechenland des Aristoteles war das Zeichen des eleutheros, des Freien, die Freigiebigkeit, die freiwillige Bereitschaft, anderen zu geben. Schwindet sie, schwindet auch die Freiheit. Und umgekehrt! Auch deshalb ist der Wohlfahrtsstaat, das politische Raubsystem des erzwungenen „Gebens“ seinem innersten Wesen nach ein System der Freiheitszerstörung.“

Aus islamischer Sicht ist die Wohlfahrt des (räuberischen) Staates eine wahre Katastrophe. Auch wenn er einen Teil des Geldes, welches er uns gewaltsam enteignet, für bedürftige Menschen ausgibt, so geht doch ein immenser Teil des Geldes allein durch den gigantischen Behördenapparat verloren, der die Umverteilung des Diebesgutes organisiert. Zum anderen wird dem unfreiwilligen „Spender“ die Entscheidung abgenommen für wen oder was sein hart erarbeitetes Geld „gespendet“ werden soll. Speziell für uns Muslime ist das tragisch, weil uns so die Möglichkeit genommen wird eine gültige Absicht (Niyya) für unsere Handlung zu fassen, was für die Annahme und Belohnung der Tat bei unserem Schöpfer von hoher Bedeutung ist.

Die Speisung der Armen, der Bau von Unterkünften und Schulen, die Hilfeleistung jeglicher Art für Bedürftige und das Ehrenamt werden mehr und mehr aus der religiösen und freiwilligen Verantwortung des Individuums heraus gelöst und dem Staat übereignet. Somit geht nicht nur ein Inhalt der Religion verloren, sondern häufig auch die Religion an sich. An ihre Stelle kommt ein neuer Glaube und eine gefährliche Götze, nämlich der Etatismus, der Glaube an den allweisen absolutistischen Staat und die Politisierung der Wohlfahrt, nur noch zum Selbstzweck … quasi eine Selbstvergottung und eine Vergottung der Gesellschaft.

So sagte es auch bereits 1950 der deutsche Ökonom und Sozialphilosoph Wilhelm Röpke voraus, in seinem Buch Maß und Mitte, Seite 60 (zitiert in Das Kapital am Pranger, Seite 215-216):

„Indem wir die Religion verdrängen, setzen wir eine vollkommene Politisierung der Existenz an ihre Stelle. […]

Die Selbstvergottung des Menschen nun nimmt die Form der Vergottung der Gesellschaft an, die somit zum eigentlichen Idol der Massen wird, und erst damit wird die leidenschaftliche Kraft begreiflich, die in der Politisierung der Existenz liegt.“

Zwei Jahre später bekam er – u.a. für diesen Scharfsinn – das Bundesverdienstkreuz verliehen. Heute hat man für solcherart Ansichten kein offenes Ohr mehr, leider.

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Über Jens Yahya Ranft

Jens Yahya Ranft, Jahrgang 1975, verheiratet, 3 Kinder, Geschäftsführer und Prokurist in einem kleinen deutsch-arabischen Unternehmen. Urheber dieses Blogs. Liest und publiziert vor allem in den Bereichen Staats- und Religionsgeschichte, (Sozio-)Ökonomie, politische Philosophie und Soziologie.

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