Dr. David D. Friedman (geb. 1945) ist Professor für Rechtswissenschaften an der Law School der Santa Clara University (Kalifornien/USA), akademischer Ökonom und Sohn des bekannten us-amerikanischen Wirtschaftsnobelpreisträgers Milton Friedman (gest. 2006).
Am 08 Mai 2013 publizierte er auf seinem Blog einen Beitrag mit dem Titel A Defense of Traditional Islamic Law (Eine Verteidigung des traditionellen islamischen Rechts), was umso bemerkenswerter ist, da Prof. Dr. David D. Friedman sich nicht nur explizit zum Atheismus bekennt, sondern auch - als einer der bedeutendsten Vordenker des Anarchokapitalismus - dem traditionell eher islamkritischen Milieu der Libertären zuzurechnen ist.
Beim folgenden Text handelt es sich um eine vom Urheber autorisierte komplette Übersetzung des Beitrages. Übersetzt für Al-Adala.de von korrekturlesen-hh.
Ich habe gerade ein interessantes Buch gelesen: An Introduction to Islamic Law von Wael Hallaq. Obwohl der Verfasser Wissenschaftler ist, richtet sich das Werk eindeutig nicht nur an ein Fachpublikum. Die zentralen Thesen des Buches sind:
- Das traditionelle islamische Recht war ein gut funktionierendes Rechtssystem, das dem modernen Recht größtenteils überlegen war.
- Dieses System wurde im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts sowohl durch direkten und indirekten westlichen Einfluss als auch durch das Aufkommen der Nationalstaaten korrumpiert und schließlich ganz zerstört.
Der Autor vertritt einen überzeugenden Ansatz, der besonders für Liberalisten interessant sein dürfte, da er mit der Tatsache beginnt, dass in der islamischen Gesetzeslehre das Recht unabhängig vom Staat ist. Zwar werden Richter vom jeweiligen Herrscher ernannt, doch das von ihnen angewandte Recht wird nicht vom Staat gemacht, sondern durch Religionsgelehrte aus religiösen Quellen abgeleitet. Ich beschreibe es gerne als das, was das angloamerikanische Gewohnheitsrecht wäre, wenn richterliche Entscheidungen durch Bücher und Artikel von Juraprofessoren ersetzt werden würden. Außerdem war das System polylegal, es koexistierten (zu bestimmten Zeiten) vier orthodoxe sunnitische Rechtsschulen, neben schiitischem, christlichem und jüdischem Recht.
Hallaqs Ansatz ist überzeugend, was jedoch nicht notwendigerweise bedeuten muss, dass er auch richtig ist. Der Herrscher konnte schließlich seine Befugnis zur Ernennung von Richtern dazu nutzen, solche auszuwählen, die seiner Sicht des Gesetzes entsprechend urteilten, und seine Kontrolle über die Durchsetzung von Urteilen dazu, zu entscheiden, welche Gesetze tatsächlich durchgesetzt wurden.
Ein gutes Beispiel ist die Geschichte von Kalif al-Mansur und dem Dichter Ibn Harma: Der Kalif war von der Vorstellung des Dichters äußerst angetan und fragte ihn daher, was er sich als Lohn dafür wünsche. Der Dichter antwortete, dass sein Lohn darin bestehen solle, von der Bestrafung für Trunkenheit verschont zu bleiben, wenn er betrunken aufgefunden und vor Gericht gebracht würde. Al-Mansur entgegnete, dass dies Gottes Gesetz sei und nicht seines, weshalb er es nicht ändern könne. Er bat Ibn Harma, einen anderen Lohn zu nennen, doch der Dichter erklärte, dass er nichts anderes wollte.
Also gab al-Mansur den Behörden in Medina Anweisung, dass Ibn Harma, wenn er betrunken aufgefunden und vor Gericht gebracht würde, sechzig Peitschenhiebe erhalten solle, wie im Koran vorgeschrieben. Doch derjenige, der ihn vor Gericht brächte, sollte achtzig Peitschenhiebe erhalten. Wenn nun jemand den Dichter betrunken auf dem Bürgersteig sah, drehte er sich zu seinem Gefährten um und sagte „Achtzig für sechzig ist ein schlechter Handel“ und ging weiter.
Diese Geschichte illustriert eine mögliche Entkoppelung der Rechtstheorie von der rechtlichen Praxis. Wir wissen jedoch nicht, ob sie sich wirklich so zugetragen hat, und wenn ja, ob dies die Regel oder die Ausnahme war.
Warum sollte ein Herrscher die Kontrolle über die Inhalte des Gesetzes aus der Hand geben wollen? Hallaq beantwortet diese Frage damit, dass die Herrscher in der Regel Ausländer waren – beispielsweise türkische Prinzen, die eine syrische, ägyptische oder arabische Bevölkerung beherrschten. Das existierende islamische Rechtssystem verschaffte ihnen in den Augen der Bevölkerung Legitimation und eine Verbindung zu lokalen Sitten und sozialen Strukturen. Beides war besonders wichtig in einer Welt, in der vormoderne Transport- und Kommunikationsbeschränkungen einen modernen bürokratischen Staat von substantieller Größe, der von einer direkten Autorität kontrolliert wurde, unmöglich machten. Daher waren die Herrscher gewillt, eine stillschweigende Übereinkunft mit Juristen, Rechtsgelehrten und denen, die mit ihnen in Verbindung standen, einzugehen. Der Herrscher überließ den Inhalt der Gesetze den Juristen und gewährte ihnen materielle Unterstützung – Gehälter für Richter und Zuwendungen an Rechtsschulen, die ihrerseits Gehälter für Professoren auszahlten sowie Kost und Logis für Studenten zur Verfügung stellten. Im Gegenzug stützten die Juristen die Legitimität des Herrschers und führten sein Rechtssystem auf eine für die beherrschte Bevölkerung akzeptable Weise.
Die juristische Unabhängigkeit wurde zudem durch die Unterscheidung zwischen der Rolle des qadi und der des mufti unterstützt. Der qadi war der vom Herrscher eingesetzte Richter, der über Rechtsfälle entschied. Der mufti war die juristische Autorität, auf dessen Expertise sich sowohl der qadi als auch die allgemeine Bevölkerung verließen. An einem Rechtsstreit Beteiligte oder jeder andere, der eine Sachverständigenmeinung zu einer rechtlichen oder moralischen Frage einholen wollte, legte diese Frage dem mufti vor, der ihm eine fatwa, also ein Gutachten, erteilte. Wenn der Fall vor Gericht kam, wurde diese Meinung als Beleg für das geltende Gesetz beigebracht. Auch wenn der qadi idealerweise selbst ein Rechtsgelehrter war, war dies nicht unbedingt erforderlich, da er sich auf Meinungen verließ, die ihm die Prozessparteien brachten oder die der mufti auf sein Ersuchen hin erteilte. Während der qadi vom Herrscher ernannt und bezahlt wurde, war dies beim mufti nicht der Fall; sein Posten hing ausschließlich von seinem Ruf ab.
Nach Hallaqs Angaben war das Ergebnis ein Rechtssystem, das im Allgemeinen gerechte und attraktive Ergebnisse zeitigte. Er hebt besonders hervor, dass die Armen und Machtlosen es regelmäßig erfolgreich dazu nutzten, ihre Rechte gegenüber den Reichen und Mächtigen zu verteidigen, ebenso wie Nichtmuslime gegenüber Muslimen oder Frauen gegenüber Männern. Des Weiteren behauptet er, dass das islamische Recht – im Gegensatz zum modernen Recht – seine Funktion eher darin sah, Ergebnisse hervorzubringen, die alle Parteien zufriedenstellten, und wenn möglich, zwischen ihnen zu schlichten, als darin, einfach nur Gewinner und Verlierer zu bestimmen.
Hallaq hat offensichtlich ein persönliches Interesse, eine Schlussfolgerung, für die er argumentiert. Er weiß wesentlich mehr über das Thema als ich, und große Teile seiner Argumentation basieren auf Fakten, die ich nicht so einfach überprüfen kann, vor allem über die noch erhaltenen Aufzeichnungen zum Ausgang von Rechtsfällen. Ich weiß, dass es eine Reihe verschiedener Meinungen über moderne Rechtssysteme gibt, einschließlich desjenigen, unter dem ich lebe, trotz der Tatsache, dass sie da sind, um überprüft zu werden. Ich weiß nicht, wie viele mögliche Interpretationen es für ein System gibt, das seinen Angaben zufolge seit einem Jahrhundert oder länger nicht mehr existiert. Deshalb bin ich unsicher, inwieweit man der Geschichte, die er erzählt, Glauben schenken darf.
Um dieses Problem zu lösen, habe ich versucht, in seiner Geschichte Teile zu finden – sowohl in dem, was er sagt, als auch in dem, was er nicht sagt –, die ich mit anderen Quellen vergleichen kann. Was eindeutig stimmt, nach allem, was ich sonst noch über das Thema gelesen habe, sind die theoretische Trennung von Staat und Justiz und die Existenz eines polylegalen Systems, bei dem unterschiedliche Menschen, die jedoch in der gleichen Stadt lebten, Rechtssystemen unterlagen, die sich zumindest in bestimmten Punkten voneinander unterschieden. Außerdem habe ich Zugang zu zwei miteinander verbundenen Aufstellungen der gesetzlichen Vorschriften, eine aus dem zehnten Jahrhundert (von der malikitischen Rechtsschule) und eine aus dem vierzehnten (von der schafiitischen Rechtsschule), so dass ich sie mit Hallaqs Angaben zu den Vorschriften vergleichen kann.
Größtenteils stimmen Hallaqs Aussagen mit den Angaben in den Aufstellungen überein. Weniger zufrieden bin ich mit dem, was er nicht erwähnt. Ein Teil seiner Argumentation, der eindeutig darauf ausgerichtet ist, feindlichen Einstellungen gegenüber dem islamischen Recht in der Welt von heute zu begegnen, ist, dass das System nicht ernsthaft voreingenommen gegenüber Frauen und Nichtmuslimen war. Er erwähnt, dass die Zeugenaussage einer Frau vor Gericht nur halb so viel wert war wie die eines Mannes, argumentiert aber gleichzeitig, dass die aktive Einbindung von Frauen in Gerichtsfälle zeige, dass dies kein großer Nachteil war. Er geht nicht darauf ein, dass die Zeugenaussage einer Frau überhaupt nur auf einem begrenzten Gebiet rechtlicher Bereiche angenommen wurde, oder dass während in diesen Bereichen zwei Frauen einem Mann entsprachen, es auch vorkam, dass einhundert Frauen einem Mann entsprachen und die gängigen Rechtsnormen entweder zwei männliche Zeugen oder einen männlichen und mindestens zwei weibliche Zeugen verlangten. Auch erwähnt er nicht, dass der Schadensersatz für die Tötung einer Frau nur halb so hoch war wie der für die Tötung eines Mannes oder dass der Schadensersatz für die Tötung eines Christen oder Juden die Hälfte oder sogar nur ein Drittel (je nach Rechtsschule) dessen betrug, was bei der Tötung eines Muslims zu zahlen war, oder dass die vorsätzliche Tötung eines Muslims ein Kapitalverbrechen war, die vorsätzliche Tötung eines Christen oder Juden jedoch nicht.
Keine dieser Tatsachen bedeutet, dass das System denjenigen, die keine männlichen Muslime waren, kein angemessenes Maß an Schutz bot, oder gar, dass es in der Praxis weniger egalitär war als das moderne Recht. Hallaqs Argumentation impliziert in Teilen, dass der von modernen Rechtssystemen gebotene Schutz zu einem großen Teil davon abhängt, wie viel Geld man hat, wogegen dieser Schutz unter islamischem Recht im Endeffekt kostenlos war. Doch all dies sind Fakten, die sein Anliegen weniger überzeugend machen würden für die Leserschaft, an die das Buch sich richtet. Dass Hallaq sie nicht erwähnt, lässt meine Überzeugung sinken, dass die von ihm präsentierten Fakten, die ich nicht überprüfen kann, ein ausgewogenes Bild der Beweise darstellen.
Hinsichtlich Hallaqs zweiter These – was zur Zerstörung dieses Systems nichtstaatlichen Rechts führte – scheinen mir die Probleme angesichts der von ihm angeführten Belege sowohl eindeutiger als auch weniger grundlegend zu sein. Die wesentliche Veränderung war die Übernahme des Rechts durch den Staat. Diese bestand zum Teil darin, dass das von Gelehrten ausgearbeitete Rechtssystem von einem Rechtssystem abgelöst wurde, das vom Staat niedergeschrieben wurde und teils auf religiösen Gesetzen, teils auf westlichen Modellen basierte. Zum Teil bestand diese Übernahme auch darin, dass der Staat die Kontrolle über die Einrichtungen an sich zog, die die Akteure des Rechtssystems förderte und ausbildete. Hallaq versucht, die Schuld an dieser Veränderung in erster Linie dem westlichen Einfluss zuzuschieben, der in direkter Weise in islamischen Gesellschaften wirkte, die von Kolonialmächten beherrscht wurden (Indien, Indonesien, Algerien) und in indirekter Weise im Osmanischen Reich, das sowohl auf ausländischen Druck auf den immer schwächer werdenden Staat reagierte als auch auf den Wunsch der osmanischen Eliten, westliche Praktiken zu imitieren, um mit den westlichen Rivalen mithalten zu können.
Das Problem mit dieser Darstellung ist, dass sowohl Hallaqs Ausführungen zufolge als auch nach anderen Berichten, die ich gelesen habe, sich die Veränderungen im Osmanischen Reich lange vor dem 19. Jahrhundert vollzogen. Die Osmanen folgten der hanafitischen Rechtsschule, mit dem Ergebnis, dass in großen Teilen des Reiches die Richter in Übereinstimmung mit dieser Rechtsschule urteilen mussten, während in anderen Teilen Richter, die den anderen drei Rechtsschulen folgten, dem hanafitischen Oberrichter untergeordnet waren, der überprüfen musste, ob ihre Urteile nicht den Regeln seiner Schule zuwiderliefen. Bereits im 16. Jahrhundert gab der Sultan den Richtern bisweilen Anweisungen, welcher von verschiedenen möglichen Regeln innerhalb des hanafitischen Rechts sie folgen sollten. Im selben Jahrhundert erkannten die Osmanen einen Großmufti an, eine vom Staat ernannte höchste religiöse Autorität. Außerdem übernahmen sie die effektive Kontrolle über die Schulen, in denen Rechtsgelehrte ausgebildet wurden. Und die osmanischen Sultane erstellten ihren eigenen Rechtskodex, den Qanun, der parallel zum religiösen Rechtskodex der Gelehrten verwendet wurde und diesen – theoretisch – unterstützen sollte.
Hallaq bemüht sich ausführlich zu belegen, dass trotz dieser Veränderungen das islamische Recht im Osmanischen Reich noch immer vorhanden und lebendig war, dass es für Gerechtigkeit sorgte und sogar die Macht des Sultans beschränkte, bis es im Laufe des neunzehnten Jahrhunderts durch den Einfluss des Westens korrumpiert wurde. Dies empfinde ich als einen der weniger überzeugenden Teile seiner Argumentation.
So wie ich seine Belege verstehe, war das, was das von ihm bewunderte traditionelle System zerstörte, die wachsende Macht des Nationalstaates, der schließlich das unabhängige Rechtssystem übernahm und für seine Zwecke benutzte. Diese Entwicklung hat eine Parallele in westlichen Gesellschaften, wo der Staat die Kontrolle über die Kirche an sich zog. Hallaq beschreibt die Inbesitznahme der waqfs, islamischer Wohltätigkeitsstiftungen, die zur Unterstützung der Familien der Spender sowie zur Unterstützung von Moscheen, Schulen und anderen wohltätigen Einrichtungen verwendet wurden; etwas, das sich im Laufe des neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts in vielen verschiedenen islamischen Staaten ereignete, sowohl in unabhängigen als auch in kolonisierten. Die offensichtliche Parallele zur Beschlagnahmung der Klöster durch Heinrich VIII. erwähnt er nicht. Eine naheliegende Vermutung ist, dass die Veränderungen sowohl im Osten als auch im Westen den möglichen technologischen Wandel reflektierten, der die Zentralisierung der politischen Institutionen stärkte.
Es ist ein interessantes und überzeugendes Buch, dessen zentrale Aussage, wie wenig plausibel sie modernen Lesern auch erscheinen mag, zutreffend sein könnte. Ich muss noch viel lesen.
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Anmerkung zur Terminologie
Viele Autoren, Hallaq eingeschlossen, verwenden den Begriff Scharia zur Beschreibung des islamischen Rechtssystems. Soweit ich es beurteilen kann, ist das nicht ganz korrekt. Die Scharia ist nach meinem Verständnis das Rechtssystem, so wie es sein sollte, das Rechtssystem, das Gottes Vorstellungen entspricht. Das tatsächliche Rechtssystem, fiqh, ist ein unvollkommener menschlicher Versuch, die Scharia in der realen Welt umzusetzen. Da Scharia die falsche Bezeichnung ist und fiqh den meisten meiner Leser nicht bekannt sein dürfte, habe ich es schlicht als islamisches Rechtssystem bezeichnet.